Sonntag, 12. Mai 2024

Archiv


In Komplizenschaft mit den Nazis

Der Wirtschaftshistoriker Stephan H. Lindner hat im Auftrag des Hoechst-Konzerns die Beziehungen dieses Unternehmens zu den Nationalsozialisten, die Verstrickung in den Krieg und die Vernichtungspolitik untersucht. Bei solchen Auftragsarbeiten ist Skepsis geboten. Doch ähnlich wie im Fall Dresdner Bank, deren umfangreiche Geschichte im Dritten Reich vor wenigen Wochen vorgelegt wurde, scheint Lindner eine kritische Aufarbeitung umfangreichen Quellenmaterials gelungen zu sein.

Von Hans G. Helms | 27.02.2006
    Seit der gesetzlichen Erledigung der Entschädigungsansprüche der nach Deutschland verschleppten Zwangsarbeiter durch Minimalzahlungen im Jahr 2000 haben deren damalige Arbeitgeber nichts mehr zu befürchten, wenn ihre Mitwirkung am Terrorsystem der Nazis aufgehellt wird. Der Münchner Historiker Stephan H. Lindner hat für seine Untersuchung "Hoechst. Ein I.G. Farben-Werk im Dritten Reich" offenbar alle relevanten Archivbestände des Chemiekonzerns auswerten dürfen. Die "ehemalige Hoechst AG" hat seine Arbeit zudem über viele Jahre hin finanziert. In der Einleitung zieht Lindner das Fazit:

    "I.G. Farben stand und steht für Autarkie, Aufrüstung, Ausbeutung und – Auschwitz."

    Über die Kommandeure von Hoechst urteilt Lindner:

    "Die Anpassungsbereitschaft der Werksleitung und der leitenden Angestellten bei Hoechst dem NS-System gegenüber (war) bemerkenswert."

    Nach Kenntnis der aus den Akten rekonstruierten Ansichten und Aktivitäten der Hoechst-Manager klingt "Anpassungsbereitschaft" wie ein krasses understatement.

    "Am 1. Januar 1933 wurde Ludwig Hermann Leiter des I.G. Farben Werks Hoechst. (Er) entwickelte sich zu einem begeisterten Anhänger Hitlers und seiner Wirtschafts- und Außenpolitik."

    Hermann zur Seite standen einflussreiche Kollegen wie Georg Kränzlein, der Leiter des Alizarin-Hauptlabors.

    "Kränzlein war nicht nur ein überzeugter Nationalsozialist, er war vor allem auch ein fanatischer Antisemit. Offenbar auf seinen Druck hin mussten jüdische bzw. als Juden geltende Mitarbeiter in der Forschung frühzeitig pensioniert werden. Noch vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges soll er 'eine große Judenreinmacherei in Europa einschließlich Russland' prophezeit haben mit der Folge, 'dass Europa in fünf Jahren keinen Juden mehr hat'."

    Verachtung menschlichen Lebens hatten Kränzlein und Hermann im Ersten Weltkrieg eingeübt, als beide an der Synthese chemischer Kampfstoffe mitwirkten. Oberleutnant Hermann befahl sogar in vorderster Front, die Feinde und gelegentlich die eigene Truppe zu vergasen.

    "Mit dem Einsatz der chemischen Kampfstoffe scheint Hermann nie Probleme gehabt zu haben. (…) Seine Fähigkeiten und (…) sein Mangel an Skrupel ließen ihn für höhere Aufgaben im Giftgaskrieg geeignet erscheinen."

    Für den Raubkrieg der Nazis wurde bei Hoechst wiederum an chemischen Kampfstoffen gearbeitet, doch anscheinend nicht erfolgreich. Überhaupt war die unmittelbare Rüstungsproduktion bei Hoechst geringer als bei anderen I.G.-Betrieben. Ob das aus der veralteten und erst graduell modernisierten Werksanlage resultierte oder aus der stiefmütterlichen Behandlung durch die I.G.-Führung, wird bei Lindner nicht klar. Carl Ludwig Lautenschläger, als "überzeugter Antisemit" und Nazi nach Hermanns Tod 1938 zu dessen würdigem Nachfolger berufen, sagte 1947 in Nürnberg als Zeuge aus:

    "Ungefähr 40 Prozent der Produktion der I.G. Farbwerke Hoechst während des Krieges stellte reine Rüstungsproduktion dar, und zwar die Erzeugung von Sprengstoffvorprodukten, Nebelsäure, Farbstoffen für Uniformen und zum Tarnen."

    Als Hoechst-Manager nach dem Krieg die Mär kolportierten, Hoechst wäre für den Krieg unwichtig gewesen, unterschlugen sie, dass zum Beispiel die Erzeugnisse der Stickstoffabteilung außer zu Sprengstoffen auch zu Düngemitteln weiterverarbeitet wurden. Aber Düngemittel und die bei Hoechst fabrizierten Schädlingsbekämpfungsmittel, Farben, Pharmaka, Kunststoffe und die mit ihnen erwirtschafteten Devisen stärkten das Naziregime von Anbeginn. Sie waren "kriegswichtig", weil sie dazu beitrugen, den Krieg zu entfachen und zu verlängern. In diesen Sparten wuchs die Produktion bis 1944 immens an. Voraussetzung der Produktionssteigerung waren genügend Arbeitskräfte. Deren Mangel wurde durch Zwangsarbeit kompensiert.

    "Laut der Chronik der Hoechst AG von 1990 (…) sank die Zahl der Mitarbeiter im Krieg von etwa 10.000 auf 8.500 bis 8.800. Da Hoechst mit allen Mitteln an der Produktion im Kriege beteiligt und (…) lukrativ (sein) wollte, (…) handelte die Werksleitung selbständig und (war bei) der Zuteilung (von) "Fremdarbeitern" höchst aktiv. "Fremdarbeiter" waren (…) Mitarbeiter zweiter oder noch niedrigerer Klasse (und wurden) "in der Chronik von 1990" verschwiegen."

    Der Begriff "Fremdarbeiter" verharmlost die Fakten und wird durch Lindners Darstellung ihrer Behandlung widerlegt. Ob – wie Italiener, Belgier oder Franzosen – Kriegsgefangene oder als "Zivilarbeiter" angeworben oder – wie Polen, Russen und Jugoslawen – zwangsrekrutiert, die von Lindner ermittelten insgesamt 8.00 Ausländer – Männer, Frauen und Kinder – galten spätestens ab Oktober 1942 kraft eines Rechtsakts überwiegend als Zwangsarbeiter. Auch die meisten der im Krieg bei Hoechst schuftenden deutschen Frauen und "Arbeitsmaiden" waren "dienstverpflichtet", standen also unter Zwang, dem sie sich durch Krankmeldung zu entziehen versuchten.

    "Besonders hoch war 1942 der Krankenstand der dienstverpflichteten deutschen Mitarbeiter. (Um ihn) zu verringern, ließ Hoechst durch einen von der Gauleitung eingesetzten Vertrauensarzt (die) Kranken untersuchen. (…) Das Ergebnis (…) war eine regelrechte Wunderheilung."

    Die hygienischen Verhältnisse in den rund 20 für die Zwangsarbeiter in Werksnähe errichteten Barackenlagern und angemieteten Gasthäusern waren katastrophal. Immer wieder ließ Hoechst seine Zwangsarbeiter, ihre Kleider und Unterkünfte entlausen. Verpflegung und Entlohnung waren – je nach Herkunft und Status – unterschiedlich, generell wohl eher dürftig. Vermeintliche deutsche und "fremdländische" Bummelanten steckte die Werksleitung in "Strafkolonnen" für Schwerstarbeit oder ließ sie durch die Gestapo verhaften und in "Arbeitserziehungslager" einweisen.

    "Ob die im Sommer 1944 (angeforderten) 300 ungarischen Juden (…) je in Hoechst ankamen, ist (…) nicht klar","

    teilt Lindner mit. Er habe keine Indizien dafür gefunden,

    ""dass in Hoechst KZ-Häftlinge arbeiten mussten. Denn dies wäre sicherlich, wenn nicht schriftlich, so doch mündlich überliefert worden."

    In der pharmazeutischen Abteilung war es seit den 20er Jahren bei Hoechst Usus, die Wirksamkeit neuer Medikamente an ahnungslosen Insassen von Heilanstalten zu testen. Im Krieg ließ Hoechst von KZ-Ärzten in Auschwitz und Buchenwald die Präparate 3582 und Rutenol auf Verdacht "an künstlich mit Fleckfieber infizierten Häftlingen" testen, mit negativen Ergebnissen:

    "In Buchenwald wurden 39 Häftlinge "durch intravenöse Injektion von je 2 ccm Fleckfieberkranken-Frischblut infiziert". (…) Die Todesquote (war) etwa gleich hoch wie bei den mit diesen Präparaten nicht behandelten Kontrollen."

    Die Präparate wirkten weder "mildernd" noch "fiebersenkend", verursachten aber häufiges Erbrechen. Nichtsdestoweniger ließen die Hoechster Pharmakologen dieselben Präparate im KZ Gusen gegen Tuberkulose testen.

    "Bis zum Februar 1945 lieferten sie den Wirkstoff, von dem sie vor allem seine hohe Unverträglichkeit kannten. (Denn) Hoechst wollte – koste es, was es wolle – (diese) Präparate (…) unbedingt ökonomisch verwerten."

    Keines der von Hoechst in Komplizenschaft mit den Nazis begangenen Verbrechen ist je geahndet worden. Der Hauptverantwortliche, Betriebsleiter Lautenschläger, stand zwar 1947 im Nürnberger I. G. Farben-Prozess vor Gericht, wurde aber in allen Anklagepunkten freigesprochen. Was Lindner nicht erwähnt, obwohl es die Förderung seiner Arbeit durch den Konzern begreifbar macht: Die Hoechst AG gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft". Auf der letzten Hoechster Hauptversammlung 1999 beschloss der Vorstand, einen kleinen Beitrag zum Stiftungsvermögen zu leisten. Der damals durch Fusion von Hoechst mit Rhone-Poulenc entstehende Pharmakonzern Aventis mochte indessen keine Verantwortung für die Zukunft übernehmen. Den Obolus an die Stiftung sollte der bedeutungslose Firmenmantel Hoechst zahlen. 2004 verschmolz Aventis mit dem Pharmagiganten Sanofi zum global player. Damit wurde in der Öffentlichkeit auch die Erinnerung an den Vorgänger Hoechst und dessen kriminelle Nazi-Komplizenschaft ausgelöscht.

    Stephan H. Lindner: Hoechst: Ein I.G. Farben-Werk im Dritten Reich.
    Verlag C.H. Beck, München 2005.
    460 Seiten
    29,90 Euro