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In Nürnberg angeklagt

Der Wilhelmstraßen-Prozess gegen hohe Beamte des NS-Regimes war eines von zwölf Verfahren, das in der Nachfolge des Hauptkriegsverbrecherprozesses verhandelt wurde. Während der Hauptprozess 1946 noch unter der Regie der vier Siegermächte geführt worden war, klagten in den Nürnberger Nachfolgeprozessen die Amerikaner exemplarisch Verbrechen der Medizin, der Justiz, der Wehrmacht, der SS, der Wirtschaft und der hohen Reichsbeamten an.

Von Annette Wilmes | 20.12.2007
    Am 20. Dezember 1947 begann der letzte der Nürnberger Prozesse, in denen sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges insgesamt 177 führende Vertreter des Hitler-Regimes für ihre Taten verantworten mussten. Wilhelmstraßen-Prozess wurde das Verfahren nach jener Berliner Straße genannt, in der das Auswärtige Amt und andere wichtige Ministerien ihren Sitz hatten. Prominentester Angeklagter war Ernst von Weizsäcker, der ehemalige Staatssekretär im Auswärtigen Amt. Dessen Sohn Richard, der spätere Bundespräsident, gehörte als damals 28-Jähriger zum Verteidigungsstab Ernst von Weizsäckers.

    "Er wird immer Wilhelmstraßen-Prozess genannt, in Wirklichkeit nannte ihn die Presse alsbald Omnibus-Prozess, weil da ungefähr 20 Angeklagte vereinigt wurden, die schon während der Nazi-Zeit untereinander kaum irgendeine Verbindung hatten und in Bezug auf ihre Einstellung zur Nazizeit oft einander diametral widersprachen."

    Tatsächlich hatten die amerikanischen Ankläger ursprünglich sechs Prozesse ins Auge gefasst. Aufgrund einer Order aus Washington mussten sie jedoch alle in einem Prozess zusammenlegen. Unter den 21 Angeklagten waren neben Ernst von Weizsäcker der SS-General Gottlob Berger, der Ernährungs- und Landwirtschaftsminister Richard Walther Darré, der Reichsminister und Chef der Reichskanzlei, Hans-Heinrich Lammers. Die Anklagepunkte in dem von den Amerikanern geführten Prozess reichten von der Mitschuld am Lynchen abgesprungener Flieger und der Ermordung und Misshandlung von Kriegsgefangenen bis zu Verbrechen an der Zivilbevölkerung, der Plünderung besetzter Gebiete, der Verfolgung, Deportation und Ausrottung zahlloser Menschen aus religiösen und rassischen Gründen.

    Der Gerichtsmarschall fragte den prominentesten Angeklagten bei Prozessbeginn, ob er anwaltlich vertreten sei, ob er die Anklageschrift rechtzeitig und in deutscher Sprache erhalten habe.

    "Defendant Ernst von Weizsäcker, have you a counsel?"

    "Bitte wiederholen Sie."

    "Have you a counsel to represent you?"

    "Ja."

    "Has the indictment in the German language been served upon you at least 30 days ago?"

    "Ja."

    "How do you plead to this indictment: guilty or not guilty?"

    "Bitte wiederholen Sie, Sie sprechen zu schnell, das kann man nicht verstehen."

    "Pardon me. How do you plead to this indictment: guilty or not guilty?"

    "Ich erkläre mich für nicht schuldig."

    Ernst von Weizsäcker war im Amt geblieben, obwohl er von den Greueltaten der Nazis wusste. 1942 erteilte er Adolf Eichmann die Genehmigung für die Deportation von 6000 Juden aus Frankreich nach Auschwitz. Weizsäcker tat dies, obwohl er sich als Gegner der Nationalsozialisten sah. Ein Regimegegner, der sich dem Regime zur Verfügung stellt? Diesen Widerspruch konnte er vor Gericht nicht auflösen.

    Den Wilhelmstraßen-Prozess hatte der stellvertretende Chefankläger Robert W. Kempner vorbereitet, der vor seiner Emigration nach Amerika Justitiar der Preußischen Polizei gewesen war. Über die Rolle der hohen Ministerialbürokratie im Dritten Reich äußerte sich Kempner 1980 in einem Fernsehfilm:

    "Die schwenkten teilweise ein wie die pommerschen Rekruten. Ohne die Leute wäre vieles schief gegangen. Das waren eben die Techniker, die können ebenso gut bei einer Demokratie wie unter dem Druck einer Diktatur arbeiten. Aber nötig sind sie."

    Das Urteil wurde im April 1949 verkündet, 16 Monate nach Prozessbeginn. Die höchste Strafe erhielt der SS-Mann Berger: 25 Jahre Haft. Der ehemalige Chef der Reichskanzlei, Lammers, wurde mit 20 Jahren bestraft, Richard Walther Darré und Ernst von Weizsäcker sollten mit 7 Jahren Haft büßen, später wurden ihre Strafen auf 5 Jahre reduziert. Schon 1950 kamen sie vorzeitig frei.

    Viele der in Nürnberg Verurteilten mussten nur einen Bruchteil ihrer Strafen absitzen. Die politisch Verantwortlichen in den USA waren dem Druck aus Westdeutschland gewichen, der aus beiden christlichen Kirchen und aus allen bürgerlichen Parteien kam, aus Adenauers CDU ebenso wie aus Carlo Schmids SPD. Kempner nannte das später die "große Gnadenarie". In der deutschen Öffentlichkeit waren die Nürnberger Prozesse von Anfang an auf Ablehnung gestoßen. Für die Entwicklung des internationalen Strafrechts und des Völkerrechts indessen haben sie eine herausragende Rolle gespielt.