Zunächst aber noch einmal Anna Politkovskaja und einer Art Psychogramm Wladimir Putins:
" Putin hatte bereits mehrmals öffentlich gezeigt, dass er grundsätzlich nicht begreift, was eine Diskussion ist, schon gar nicht, wenn ein Rangniederer mit einem Ranghöheren über Politik zu debattieren versucht. So etwas, meint Putin, darf es nicht geben. Und falls ein Rangniederer sich das mit ihm als Staatsoberhaupt erlaubt, dann ist er ein Feind. Putin verhält sich so, nicht weil er von Geburt an ein Tyrann und Despot wäre, sondern weil er dazu erzogen wurde. Dieses Verhalten hat man ihm beim KGB eingetrichtert, dessen Drillsystem er für ideal hält, was er schon mehrmals öffentlich bekundet hat. Wenn daher jemand nicht mit ihm einer Meinung ist, verlangt Putin kategorisch, mit "dieser Hysterie" aufzuhören. Das erklärt auch, warum er sich im Wahlkampf nicht der Diskussion stellte. Da ist er überhaupt nicht in seinem Element, er ist nicht fähig zu debattieren, er kann keinen Dialog führen. Seine Sache ist der Monolog, und zwar nach militärischem Muster: Solange du ein Untergebener bist, halt den Mund. Wirst du zum Vorgesetzten, bist du derjenige, der Monologe hält, und alle Untergebenen müssen so tun, als wären sie mit allem einverstanden. Dieses streng hierarchische Denken führt mitunter zu Amtsenthebung und physischer Vernichtung. Und es steht hinter dem, was Chodorkowski widerfahren ist. "
Jenem Michail Chodorkowskij, jenem Öl-Milliardär, der in diesen Tagen zu neun Jahren Lagerhaft verurteilt worden ist und dessen Prozess vor einem Moskauer Gericht weltweit für negatives Aufsehen gesorgt hat, ihm widmet Gernot Erler, Russland-Experte der SPD-Bundestagsfraktion in seinem jüngst erschienen Buch "Russland kommt - Putins Staat - der Kampf um Macht und Modernisierung" breiten Raum. Auch ein zweiter Autor, Christian Wipperfürth, befasst sich mit - so der Titel: - "Putins Russland", um dann die Frage zu stellen: "Ein vertrauenswürdiger Partner?" - Beide Analysen hat sich Peter Josef Bock angesehen, der seine Sammelrezension mit Erlers Arbeit und einem Hinweis des Autors selbst beginnt.
" Die Verantwortung für diesen Text trage ich allein... "
…schreibt der gelernte Osteuropa-Historiker Gernot Erler im Vorwort, und geht damit sogleich auf Distanz zum Politiker Erler. Immerhin: In seiner Funktion als Stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion ist er dort so eine Art Chef-Außenpolitiker. Aber das ist übervorsichtig, denn seine Kritik an Putins Politik bleibt selbst in diesem Buch maßvoll. Erler akzeptiert - manchmal sogar mit ironischer Distanz - die russische Realität - und das heißt: einen Präsidenten Wladimir Putin, der mit seiner selbsterklärten "gelenkten Demokratie" den aufgeklärten Zaren gibt. Also verzichtet der Autor ausdrücklich…:
"…auf die Erklärung russischer Gegenwartspolitik aus bisher unbekannten Persönlichkeitsmerkmalen des Wladimir Putin ebenso wie auf einen neuen Anlauf, das Besondere an dem gegenwärtigen politischen System Russlands durch ein neues begriffliches Etikett auf den Punkt zu bringen… "
Stattdessen versucht er Putins Regime an drei "exemplarischen" Konflikten zu illustrieren: am Fall des tschetschenischen Terroranschlags in Beslan, am Prozess gegen den so genannten Oligarchen Chodorkowskij und am Umgang der russischen Führung mit der "Orangenen Revolution" in der Ukraine. Der Parlamentarier als Analytiker, oder, wie man inzwischen sagt, als Analyst. Alle drei Fälle schildert der Autor zwar nicht in epischer Breite, aber gut und verständlich aufgearbeitet, vor allem für ein Publikum, das mit der Materie nicht unbedingt in jedem Detail vertraut ist. Seine kontinuierlich leise Kritik verpackt Erler mit unauffälliger Wortwahl in eine Chronik der Ereignisse:
" Russland starrte auf seinen allmächtig-ohnmächtigen Präsidenten… Die meisten Fragen zu Beslan sind bisher ohne Antwort geblieben… "
Statt direkt Kritik zu üben, stellt Erler lieber Fragen oder zitiert kritische Fragen und Kommentare Dritter. Wie hier etwa den prominenten russischen Menschenrechtler Sergej Kowaljow:
" Vielleicht ist der Fall Chodorkowskij keine generelle Kriegserklärung an die Zivilgesellschaft, wie Kowaljow befürchtet. Aber die Wirkung des Konflikts entspricht dieser Befürchtung ziemlich genau. "
Nur im Fall Tschetschenien kritisiert der Politiker im Gewande des Autors die Ignoranz der russischen Führung dann doch ein wenig deutlicher:
" Mit der blutigen Geiselnahme von Beslan… hat diese Reaktion auf die Verdrängung des Tschetschenienkonflikts vorerst ihren extremsten und erschreckendsten Ausdruck gefunden. "
Und dennoch: Erler wirbt beim Westen beharrlich um ein größeres Verständnis für die russische Binnensicht: Bei einer Mehrheit der Bevölkerung habe Putin doch ganz offensichtlich Zustimmung gefunden, was ausländische Kritiker anscheinend nicht wahrnähmen:
" Die Nachrichten über eine zunehmend autoritär gelenkte Demokratie stauten das Unbehagen weiter auf. Dem Westen erschloss sich die russische Binnenwahrnehmung vom Wechsel der Jelzin-Phase mit Chaos, Unsicherheit und Auflösung zur Putin-Phase mit Ordnung, Prosperität und nationalem Wiederaufstieg in keiner Weise. "
Ein ideales Russland à la Putin bedeute die Verbindung von… - Zitat: "russische(n) Traditionswerte(n) mit westlicher Modernität". Aber mit Blick auf die Wirklichkeit - und dazu gehört, dass Putins Schule eben der Geheimdienst KGB war - stellt der Autor nüchtern fest:
" Die Anmutung, Wladimir Putin könnte sich von allem befreien - von seiner Herkunft, seiner beruflichen und politischen Sozialisation, seiner Umgebung, den Knebeln der Vergangenheit und den Untiefen der russischen politischen Kultur -, um sich zum Anwalt eines westlichen Traums von Russland zu machen, entbehrt jeder realen Grundlage. "
Das könnte, kaum anders formuliert, jeder Historiker zum Beispiel auch über Peter den Großen geschrieben haben. Erler zeigt sich verwundert, dass der Unmut der öffentlichen Meinung über Putin im Ausland ausgerechnet nach dem Blutbad tschetschenischer Terroristen in der Schule von Beslan losbrach, einer Art "11. September" für Russland. Westliche Regierungen, allen voran Berlin, hatten deshalb sogleich versucht, derlei Kritik zu dämpfen und sich mit der russischen Führung - damit aber auch deren rücksichtslosem militärischem Vorgehen - solidarisiert. Am besten aufgearbeitet hat Erler den Fall Chodorkowskij, den er als Duell zwischen Präsident und Oligarch schildert, auch als Konflikt zweier gegensätzlicher Modelle, Russland zu modernisieren. Der Autor stellt den Ex-Milliardär zwar keineswegs als Lichtgestalt dar, dennoch hat…:
"…die Prominenz des Beschuldigten (…) die ganze Welt auf dieses Herrschaftsinstrument der selektiven Rechtsanwendung in Russland aufmerksam gemacht. Die Zweifel am russischen Rechtsstaat sind dadurch gewachsen… "
Das haben Journalisten auch schon vor Erler geschrieben. Aber so deutlich, wie er es formuliert, ist es doch ein großer Unterschied zu der Unbedenklichkeitsbescheinigung, die Bundeskanzler Schröder dem Präsidenten Putin in Sachen Chodorkowskij und Yukos ausgestellt hat.
"…Putins verlorenes Spiel… "
So ist das Kapitel überschrieben, das die misslungene Intervention des russischen Präsidenten und seiner Berater, der so genannten "Polit-Technologen" in die ukrainischen Präsidentschaftswahlen schildert. Erler ist während des Schreibens ganz offensichtlich von den Ereignissen der "Orangenen Revolution" in der Ukraine überrollt worden: Seine Darstellung liest sich wie eine Mischung aus Agenturmeldungen und Zitaten aus einem Reiseführer von Kiew. Dennoch ist die chronologische Auflistung, die erste Deutung der Ereignisse sowie die Auswahl der Zitate lesenswert:
" Das Desaster sei erst gekommen, weil man der Revolution "nicht rechtzeitig eines in die Fresse" gegeben habe…" "
so zitiert Erler wörtlich einen dieser "Polit-Technologen" aus dem Dunstkreis des Kreml. Recht milde dann und mit einer reichlichen Portion Wunschdenken, appelliert Erler an die politische Klasse in Moskau, doch bitte Abstand zu nehmen von einem großrussischen Revanchismus. Wie eine Lichtgestalt taucht im Ukraine-Kapitel plötzlich der bis dahin angestrengt verschwiegene Name "Gerhard Schröder" auf, und zwar als der große Vermittler, der sein - Zitat: - "besonderes Vertrauensverhältnis" dazu genutzt habe, den russischen Präsidenten, seinen Duz-Freund zu bewegen, der gerichtlichen Überprüfung der Wahlergebnisse - im Nachbarland Ukraine wohlgemerkt! - zuzustimmen.
" Der Zerfall der Sowjetunion ist die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts gewesen… "
…beklagte Putin erst vor wenigen Wochen, kurz vor dem 60. Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland am 9. Mai. - Erler konnte also dieses Zitat noch nicht kennen, als er fast hellsichtig schrieb:
" Diese aus Sowjetnostalgie gespeiste Nationalideologie der raumgreifenden Stärke Russlands behindert tatsächlich eine Abgrenzung des Gestern vom Heute und legt der Modernisierung des Landes Steine in den Weg. "
Auf Russland lastet seine Geschichte. Das Land findet nicht oder nur sehr schwer aus jenen Spurrillen heraus, die aus seiner Vergangenheit in die Gegenwart führen. Dies schreibt sinngemäß auch Christian Wipperfürth in seinem Buch "Putins Russland - ein vertrauenswürdiger Partner?"
" Der Staat ist genötigt, als Modernisierungsagentur zu fungieren, da es an gesellschaftlichen Kräften mangelt, die Träger dieser Aufgabe sein könnten. Indem er diese Funktion übernimmt, behindert er jedoch die Kräftigung der Zivilgesellschaft und somit die Wirksamkeit der Reformen… "
Verständnis für Russland und Putin, so könnte man das Motto Wipperfürths in fünf Worten zusammenfassen. Der Politikwissenschaftler und Friedrich-Ebert-Stipendiat kennt das Land, denn er hat in den vergangenen Jahren als Gastdozent an der Staatlichen Universität Sankt Petersburg gelehrt. Über den Alltag des Landes weiß er recht gut Bescheid. Seine wissenschaftliche Arbeit ist sehr verständlich geschrieben, vor allem aber: Sie schließt den an Russland interessierten Laien nicht aus. Wipperfürth wollte - so der Untertitel seines Buches - "Grundlagen, Hintergründe und Praxis russischer Außenpolitik" unter Putin analysieren. Fast ein Drittel seines Textes ist zunächst der Innenpolitik des russischen Präsidenten gewidmet. Und das liest sich in weiten Passagen wie eine Art Blaupause für die Russland-Politik des noch amtierenden Bundeskanzlers, wohlsortiertes Basismaterial für eine Männerfreundschaft, die womöglich bald nur noch auf privater Ebene fortgesetzt werden könnte. Als verheerend-verniedlichend muss in diesem Zusammenhang eine Wipperfürth’sche Formulierung wie diese über den Konflikt im Nord-Kaukasus gelten:
" In Tschetschenien kommen zahllose Menschen ums Leben. "
Ach ja ??! - Ein hohes Maß an Verständnis zeigt der Politologe übrigens für den Prozess der so genannten "gelenkten Demokratie", in deren Verlauf Putin-Vertraute das Parlament und Schlüssel-Medien unter ihre Kontrolle gebracht haben, inzwischen sogar - wenn auch nicht unbedingt erfolgreich - dabei sind, eine neue Staatsjugend zu etablieren:
" Die in Deutschland geläufige Gegenüberstellung des "demokratischen" Russland unter Jelzin und der "autoritären Tendenzen" unter Putin führt in die Irre… Der Präsident ist keinem Masterplan zur Eliminierung der Demokratie gefolgt, die vor einigen Jahren angeblich noch ein beträchtliches Niveau aufgewiesen haben soll… "
Ausgehend von dieser ausgesprochen freundlichen Bewertung der Innenpolitik Putins analysiert Wipperfürth dann die russische Außenpolitik seit Jelzin: Das Verhältnis zu Europa, den USA, Asien, den baltischen Ländern und den GUS-Staaten - all dies spricht er an. Das aber ist eine Lektüre, die sich letztlich wohl nur für denjenigen richtig lohnt, der sich für die feinsten außenpolitischen Wurzelfäden einer einstigen Supermacht interessiert.
Wipperfürth ist übrigens überzeugt, dass Putin sich nach dem Terroranschlag vom 11. September 2001 eindeutig an die Seite des Westens begeben habe - und daraus folge:
" Wirtschaftliche Interessen Russlands sind das vielleicht dauerhafteste und verlässlichste Motiv einer engen Zusammenarbeit mit dem Westen, vor allem mit Deutschland. "
Eine Richtschnur indes, an der sich Bundeskanzler Gerhard Schröder stets ebenso überangepasst orientiert hat wie sein Vorgänger Helmut Kohl. - Auch eine in naher Zukunft nicht auszuschließende schwarz-gelbe Koalition dürfte kaum eine Russland-Politik nur unter missionarisch-moralischen Gesichtspunkten betreiben - obwohl dann mit Männerfreundschaften bei Sauna und Schlittenfahrten erst einmal Schluss sein dürfte. Aber in Russland sitzt man bekanntlich auch gern gemütlich am Samovar und trinkt schwarzen Tee. - Und Angela Merkel soll ja sehr gut russisch sprechen.
Gernot Erler: "Russland kommt: Putins Staat - der Kampf um Macht und Modernisierung." Erschienen im Verlag Herder, Freiburg im Breisgau. 190 Seiten - für 8,90 Euro. - Und: Christian Wipperfürth: "Putins Russland - ein vertrauenswürdiger Partner?" ibidem-Verlag, Stuttgart. 225 Seiten zum Preis von 24,90 Euro.