Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


In Ruhe trauern

"Nichts ist mehr, wie es war", sagte Bundespräsident Horst Köhler wenige Tage nach dem Amoklauf von Winnenden vor einem Jahr. Was hat sich tatsächlich seitdem geändert bei Menschen, Politik, Polizei und Medien?

Von Uschi Götz | 10.03.2010
    Geschockt blickte die Welt vor einem Jahr nach Winnenden und Wendlingen.

    "Ein Amokläufer hat an einer Schule in Baden-Württemberg mindestens zehn Schüler... die Tat ereignete sich in einer Realschule in Winnenden ... das Innenministerium in Stuttgart erklärte, bei den Toten handelte sich um Schüler ... um 9.30 Uhr und begann um sich zu schießen anschließend flüchtete er in die Innenstadt... nach dem Amoklauf in der Nähe von Stuttgart hat Bundeskanzlerin Merkel den Angehörigen der Opfer ihr Mitgefühl ausgesprochen."

    Morgen jährt sich der Amoklauf von Winnenden und Wendlingen. Es war gegen 9.30 Uhr, die zweite Schulstunde, als der 17-jährige Tim K. seine frühere Schule betrat und innerhalb weniger Minuten zwölf Menschen erschoss: acht Schülerinnen, einen Schüler und drei Lehrerinnen. Auf seiner Flucht tötete er mit der Waffe seines Vaters noch drei weitere Menschen. Nachdem der junge Mann von der Polizei angeschossen worden war, richtete er sich selbst. 13 Menschen - Schüler, Lehrer, Polizisten - wurden teils schwer verletzt. Viele körperlich - fast alle an der Seele. Bernhard Fritz, Oberbürgermeister der Stadt Winnenden:

    "Ganz schlimme Eindrücke waren, als ich gesehen habe wie Helfer, Notärzte - aber nur für Sekunden, nur durch zu schnaufen - kurz raus kamen aus dem Gebäude und sofort wieder reingegangen sind. Und ich natürlich, als ehemaliger Leiter eines Krankenhauses, sofort geahnt und gesehen habe, was da drin passiert sein muss."

    Die Erinnerungen bleiben. Erwin Hetger, damals baden-württembergischer Landespolizeipräsident:

    "Der 11. März 2009 war für mich der schwierigste Tag in meiner 19-jährigen Zeit als Landespolizeipräsident. Die Eindrücke, die Bilder, die Gespräche, die man dort führte, die habe ich bis heute nicht vergessen und bis heute nicht voll und ganz verarbeitet. Ich denke gerade die Bilder am Tatort, die haben sich so tief eingeprägt, dass sie immer wieder hoch kommen. Das ist auch bei mir so. Bis hin, dass es auch nachts Momente gibt, wo man aufwacht und hat diese Situation vor Augen."

    Erwin Hetger hat den Einsatz in Winnenden und Wendlingen geleitet. Wenige Monate nach dem Amoklauf ging der 65-Jährige in den lange geplanten Ruhestand. Am Ende seiner beruflichen Laufbahn gewährte er einen zutiefst menschlichen Einblick in seine Seele:

    "Es gab ja nun viele Kolleginnen und Kollegen, die unmittelbar Täterkontakt hatten, die auch weitgehend traumatisiert waren. Und gerade mit denen sich auszutauschen, sehr offensiv, das hat mir persönlich sehr viel gebracht. Da gab es auch überhaupt keine Tabumomente, das man das Innerste nicht nach außen kehrte, sondern ich habe mich dabei auch voll geoutet: dass bei mir Tränen geflossen sind, dass ich permanent Probleme habe. Mein Credo in die Polizei hinein war ja auch immer gewesen: Wer keine Emotionen zeigen kann, ist bei der Polizei nicht geeignet, ist fehl am Platze. Also auch wir als Polizisten, das war meine tiefe Überzeugung, müssen in der Lage sein, Emotionen zu zeigen bis hin, dass man zum Äußersten geht und wenn es sein muss auch die Tränen nicht unterdrückt und eine Fassade aufbaut, die nicht den inneren Gefühlen entspricht."

    "Nichts ist mehr, wie es war" - sagte Bundespräsident Horst Köhler wenige Tage nach der Tat bei der zentralen Trauerfeier. Seit dem Amoklauf gilt in Winnenden ein anderes Zeitmaß: die Zeit vor - und nach dem 11. März 2009. Es gibt auch eine neue Einordnung, wenn es darum geht, die Menschen in der schwäbischen Kleinstadt zu beschreiben: Betroffene und Nicht-Betroffene. In der Mitte steht Oberbürgermeister Fritz. Er musste in den zurücklegenden Monaten dafür sorgen, dass die Überlebenden und die Angehörigen der Opfer geschützt trauern können.

    "Es gibt Eltern, die augenscheinlich mit der Situation etwas besser umgehen können und besser damit zu Recht kommen als andere, die einfach immer noch in tiefer Trauer versunken sind. Da wird es genauso sein wie bei vielen anderen, die jetzt nicht Opfereltern sind, aber vielleicht Verletzte oder Angehörige von Verletzten mit dem Thema umzugehen haben. Es ist sehr unterschiedlich. Und vielleicht ist es auch gut so, dass es keinen Königsweg gibt, wie gehe ich mit der Trauer um. Sondern, dass jeder seine eigene Trauer erlebt, sie auch ausleben muss - ob er will oder nicht."

    Seit dem Amoklauf fand in den Räumen der Albertville-Realschule kein Unterricht mehr statt. Das Gebäude wird bis zum übernächsten Herbst renoviert. Die Fassade wird ein neues Gesicht bekommen - zumindest äußerlich soll nichts mehr an den 11. März 2009 erinnern. Die rund 600 Schüler und Lehrer wollen zurück an ihre alte Schule. Noch sind sie in einem Provisorium untergebracht: in über hundert Schulcontainern, die auf einem nahen Sportplatz stehen. Der Oberbürgermeister versucht seit Monaten, so etwas wie Normalität in die Stadt zu bringen.

    "Am Anfang war es natürlich so, wir waren geschockt. Wir waren wie gelähmt. Es war ein sehr ruhiges Leben in der Stadt geworden. Während wir vorher pulsierend, vielleicht etwas schrill, vielleicht manchmal auch etwas laut bei gewissen Festen waren, ging es dann doch enorm zurück. Aber, das hat nur einige wenige Wochen angedauert. Und was uns wichtig war, es sollte keine Veranstaltung, die irgendwo in den Jugendbereichen hineingespielt hat, überhaupt gecancelt werden, haben wir auch nicht gemacht, auch nicht am Anfang. Und deswegen sind wir relativ gut über die Runden gekommen."

    Aber noch weit entfernt von einem normalen Leben.

    "Das Angsterleben hier in Winnenden war sehr, sehr weit verbreitet. Es gab Leute, die sehr betroffen waren und sehr umfangreiche Hilfe benötigen. Und andere, die tatsächlich zum Teil auch die Konfrontation bzw. Verarbeitung bewusst vermieden haben. Was nicht per se was Falsches sein muss, sondern was durchaus auch eine gesunde Reaktion sein kann. Aber insgesamt ist es tatsächlich so, dass dieses sogenannte "Wir-Gefühl" hier in Winnenden tatsächlich in den letzten Monaten entstanden ist. Das heißt, die Menschen sind näher zusammengerückt."

    Thomas Weber ist Psychologe und Geschäftsführer des Kölner Unternehmens TraumaTransformConsult. Er und sein auf Traumata spezialisiertes Team betreuen von der Gewalttat betroffene Schüler und Lehrer. Gerade um den Jahrestag steigt die Zahl der Hilfesuchenden wieder an.

    "Tatsache ist, viele werden von diesem Widererleben überflutet in Form von Albträumen mit hinzugehörenden Gefühlen von Hilflosigkeit und Ohnmacht und überfluten die Person. Es ist oft eine überhöhte Reizbarkeit oder Schreckhaftigkeit zu beobachten. Konzentrationsstörungen."

    Die Traumapsychologen sind immer ansprechbar, immer präsent. Ihr Einsatz wird finanziert von der Unfallkasse Baden-Württemberg. Das Team um Weber wird solange vor Ort bleiben, wie es gebraucht wird. Untergebracht ist es im Schulzentrum, in einem eigens aufgebauten Containerdorf. Das Nachsorgekonzept der Psychologen wurde bereits angewandt bei Katastrophen wie dem Zugunglück von Eschede oder den Amokläufen in Erfurt und im nordrhein-westfälischen Emsdetten.

    Doch nicht nur die Betreuung der Betroffenen beschäftigt Weber. Er versucht bis heute, auch auf Medienvertreter einzuwirken. Wenige Tage vor dem Jahrestag richtete er an Journalisten einen Appell:

    "Die Zeit um den 11. 03. herum wird eine sehr, sehr schwierige Zeit für die Betroffenen. Es ist insbesondere wichtig, dass sich deswegen das Bild 2010 von dem Bild 2009 unterscheidet. Deswegen sind wir auch auf Ihre Mithilfe angewiesen."

    Einer großen Schar von Journalisten, Kameraleuten und Fotografen brachte Weber während der Pressekonferenz Grundbegriffe aus der Psychologie bei. Eine Retraumatisierung könnte dann entstehen, erklärte er, wenn Betroffene immer wieder dazu befragt werden, wie sie den Tag des Amoklaufs erlebt haben.

    "Die Bilder, die Gefühle, die Ängste, die Hoffnungen, die enttäuschten Hoffnungen sind genauso wieder präsent, wie am ersten Tag. Und insofern ist es wichtig, dass wir die Menschen schützen in dieser Situation konkret schützen."

    Eine eindringliche Bitte. Auch den Chefredakteuren schickte er sie schriftlich. Der Psychologe fordert unter anderem dazu auf, nicht ohne Erlaubnis bei Betroffenen zu Hause anzurufen, keine Minderjährigen zu befragen, keine weinenden Menschen zu fotografieren oder zu filmen.

    Das alles sind Forderungen, die sich auch im Pressekodex für Journalisten wiederfinden. Doch scheinbar bedarf es Traumapsychologen, um an den Verstand von so manchem Journalisten zu appellieren. Zu Recht: Denn einige Medien haben in ihrer Berichterstattung sämtliche Tabus gebrochen. 47 Beschwerden gingen im Laufe des Jahres beim Deutschen Presserat ein. Seine Bitte richtete Weber ausdrücklich auch an die öffentlich-rechtlichen Sender.

    Als unwürdig und verletzend empfanden viele Betroffene vor einem Jahr die Berichterstattung über Winnenden. Um Ähnliches morgen zu unterbinden, hat die Stadt rund um den Ort der Gedenkfeier ein Film- und Fotografierverbot ausgesprochen. Lediglich die Deutsche Presseagentur und der im Südwesten ansässige Südwestrundfunk sind bei der Veranstaltung zugelassen, zu der auch Bundespräsident Köhler erwartet wird. Den übrigen Pressevertretern steht eine Tribüne im Freien zur Verfügung. Sie können dort - auf Distanz zu den Trauernden - die Übertragung der Gedenkfeier auf einer Leinwand verfolgen. Polizisten sollen dafür sorgen, dass das Film- und Fotografierverbot eingehalten wird.

    Rückblickend kritisiert der frühere Landespolizeipräsident Erwin Hetger die Arbeit der Medien scharf:

    "Wir haben nach Erfurt bundesweit diskutiert, große Beschlüsse in der Innenministerkonferenz gefasst. Sind an den Presserat herangetreten, wollten eine Vereinbarung mit dem Presserat schließen für speziell derartige Taten. Das war ein zögerliches Hin und Her. Und am Ende stand nichts. Und dann kam Winnenden. Ich denke, der Presserat wird bereit sein zu sagen, das eine oder andere war nicht in Ordnung. Scheckbuchjournalismus, dieses offensive Berichten über den Täter, keine Rücksichtnahme auf die Opfer und Angehörigen. Das muss doch jeder normal Denkende sagen, das war nicht in Ordnung. Da werden wir auch einen Konsens mit dem Presserat hinbekommen. Aber ansonsten war für mich die Presseberichterstattung zu täterzentriert."

    Doch Hetger macht nicht nur den Medien Vorwürfe. Auch die, dem Amoklauf sich anschließende politische Diskussion sei eine Katastrophe gewesen.

    "Ganz offen gesagt, auch dies hat mich persönlich sehr enttäuscht. Wie man politisch mit dieser Tat hier in Baden-Württemberg umging. Und insbesondere versuchte, Politik aus dieser Tat herauszuschlagen. Eine derartige Tat darf nicht instrumentalisiert werden. Egal in welche Richtung."

    Am Tag nach dem Amoklauf kam es zu einer fatalen Fehlinformation. Der baden-württembergische Innenminister Heribert Rech hat der Presse ein angebliches Protokoll eines Internetbeitrags präsentiert. Der Text, so erklärte der CDU-Politiker damals, stamme mutmaßlich von Tim K., der seine Tat im Internet angekündigt haben soll. Wenige Stunden nach Rechs Auftritt musste die Polizei die Aussagen des eigenen Innenministers dementieren. Inzwischen weiß man sicher, dass es keinen entsprechenden Eintrag im Internet gab. Rech heute:

    "Natürlich, den Druck habe ich schon gespürt. Aber, es ist ja auch verständlich, wenn ein großes öffentliches Interesse schon aus der einfachen Frage resultiert, was bringt einen 17-Jährigen dazu, so etwas zu tun, wie konnte das überhaupt passieren? Das fragt sich jede Mutter, jeder Vater, die ein Kind in der Schule haben. Das fragt sich jede Lehrerin, jeder Lehrer. Und da ist die Politik gefordert, das, was sie weiß, zunächst einmal mitzuteilen und nichts hinter dem Berg zu halten. Die Frage ist eben immer nur, ob man mit dem augenblicklichen Wissen, das immer nur eine Momentaufnahme ist, ob man etwa weitere Ermittlungen dadurch erschwert oder gar behindert. Da muss man sorgfältig abwägen. Aber da habe ich nichts auszusetzen an dem Interesse der Öffentlichkeit, auch nicht an den Medien."

    Rund einen Monat nach der Tat berief die baden- württembergische Landesregierung ein Expertengremium ein. Ein halbes Jahr lang tauschten Kriminologen, Polizisten, Psychiater, Psychologen, Pädagogen und Politiker ihre Erkenntnisse im Zusammenhang mit Amokläufen aus. Am Ende legte das Gremium ein Konzept mit 83 Empfehlungen vor. Beispielsweise soll es an den Schulen im Südwesten für Amokläufe einheitliche Warnsignale geben: Ein Ton muss dafür stehen, in Deckung zu gehen; ein anderer Ton fordert dazu auf, sofort das Schulgebäude zu verlassen. Weitere Schwerpunkte liegen bei den Themen Prävention, Erziehung und Früherkennung. Die Expertenkommission verlangte zum Beispiel mehr Personal an den Schulen, damit auffällige Schüler rechtzeitig erkannt werden können. Dementsprechend soll die Zahl der Schulpsychologen im Südwesten auf 200 verdoppelt werden.

    Britta Bannenberg, Professorin für Kriminologie in Giessen, gehörte der Kommission an.

    "Man kann sagen, es hat sich etwas getan, und zwar im Grunde fatalerweise durch den letzten Amoklauf in Winnenden, ist es tatsächlich spürbar, dass Lehrer, dass Schulen plötzlich sich mit dem Thema Gewalt allgemein viel intensiver beschäftigen. Sie haben Informationsbedarf, zum Teil sicher auch begründet durch die Angst das nächste Opfer zu werden. Aber es öffnet den Blick viel weiter und das ist immerhin eine Chance. Auch die Kinder und Jugendpsychiater sind sehr aufmerksam geworden. Und das ist ja auch sehr wichtig. Denn, wenn ihnen die sehr Schwierigen vorgestellt werden, die entsprechende Drohungen, Ankündigungen, Andeutungen, machen, die Verhaltensstörungen entsprechender Art zeigen, dann ist es schon wichtig, sich im Kollegenkreis auseinander zusetzen und darüber zu verständigen, um hier Gefahren zu erkennen."
    Seit dem Jahr 2000 gab es allein in Deutschland acht Amokläufe an Schulen. Nicht immer waren Tote zu beklagen wie in Winnenden oder 2002 am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt. Die Kriminologin weist bei der Früherkennung eines potenziellen Täters auf eine Schwachstelle hin: Nicht alle Kinderpsychiater oder Kinderpsychologe seien in der Lage, dessen Probleme auch zu erkennen, obwohl der Jugendliche von Gewaltfantasien erzählt oder Verhaltensstörungen zeigt. Bannenberg bemängelt, dass viele Therapeuten mit der Vorstellung eher Schwierigkeiten haben, ihr Patient könnte gerade eine schwere Gewalttat planen.

    "Es sind auch nicht alle Kinder- und Jugendpsychiater und -psychologen forensisch tätig oder forensisch ausgebildet, was normal ist. Das heißt, sie haben grundsätzlich die Haltung, man muss Menschen heilen und ihnen helfen. In dem Moment, wo es mit Eigen- und Fremdgefährdung zu tun hat, ist möglicherweise aber eine andere Sichtweise gefragt, möglicherweise auch eine Zwangsunterbringung wegen Fremdgefährdung oder Eigengefährdung. Das ist im Grunde immer noch ein seltenes Phänomen. Aber die Aufmerksamkeit gerade in der Kinder- und Jugendpsychiatrie für diese Phänomene, die ist enorm. Ich glaube, da wird es sehr schnell einen rasanten Wissensfortschritt geben."

    Die Professorin für Kriminologie hat ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse in einem Buch zusammengefasst, das unter dem Titel "Amok" im Gütersloher Verlagshaus erschienen ist. Sie zeigt darin an Beispielen auf, welche Faktoren im Zusammenwirken in einer schulischen Gewalttat gipfeln könnten. Das Buch richtet sich vor allem an Eltern und Lehrer. Und es beschreibt die Persönlichkeitsentwicklung der meist männlichen Täter:

    "Interessant war, dass bei allen Schülern bereits in der Grundschule beschrieben wurde, dass sie still und zurückgezogen sind, dass sie Leistungsschwierigkeiten haben in Form von Konzentrationsschwierigkeiten. Obwohl die Eltern und auch die Lehrer diesem Jungen mehr zugetraut haben, hat er die Leistung nicht erbracht. Und so etwas hat sich dann nur noch verstärkt. Was genau nicht der Fall war, war, dass diese Jungen aggressiv gewesen wären. Sie waren überhaupt nicht auffällig, sondern im Gegenteil: so unauffällig und still, dass man sie fast vergessen hat."

    Fast alle hätten Angst vor Gleichaltrigen und Angst davor, überhaupt in die Schule zu gehen. Gerade solche Kinder sollten bereits vor der Pubertät den Eltern und Lehrern auffallen. Sollte das Kind nicht aus der Reserve zu locken sein, empfiehlt Britta Bannenberg das Gespräch mit einem Schulpsychologen.

    Der Kriminologin fiel bei ihren Recherchen ferner auf, dass sich bei fast allen Amokläufern eine sich entwickelnde narzisstische Persönlichkeitsstörungen feststellen ließ. Möglicherweise spielen auch beginnende Psychosen eine Rolle. Diese Erkenntnis sei wichtig vor dem Hintergrund, dass die Verfügbarkeit von Schusswaffen ein zusätzliches Risiko darstellt:

    "Sehr typisch ist auch, dass Waffen verwendet werden, die im Besitz der Väter, Großväter oder Onkel waren. Die zwar zum Teil in Schränken verschlossen waren, aber sehr unzureichend. Die Jungen wussten, wo die Schlüssel sind. Die Jungen wussten auch, wie sie diese Waffenschränke aufbrechen können, das war alles kein Problem. Sie sind aber von ihrer Persönlichkeit keine aggressiven oder körperlich aggressiven Jungen. Das heißt, die simple und naive Idee, na ja, wenn ich die Schusswaffe im Elternhaus nicht vorfinde, dann gehe ich halt ins kriminelle Milieu und besorge mir derartige Schusswaffen, dies ist völlig irreal. Einige, die nicht an Schusswaffen herangekommen sind, sind auf Messer ausgewichen oder haben das Geschehen auch aufgegeben."

    Im Juni des vergangenen Jahres hat der Deutsche Bundestag das Waffenrecht verschärft. Es gelten striktere Sicherheitsbestimmungen, wie und wo Waffen aufbewahrt werden müssen. Außerdem wurde die Altersgrenze für den Umgang mit großkalibrigen Waffen von 14 auf 18 Jahre angehoben. Eine noch weitergehende Regelung lehnt der baden-württembergische Innenminister Rech ab.

    "Schützenvereine beispielsweise sagen ja, wir können unserem Auftrag gar nicht mehr nachkommen. Das ist ein verantwortungsvoller Auftrag, denn sie haben junge Menschen zum verantwortungsbewussten Umgang mit Waffen zu erziehen. Wenn sie das Eintrittsalter von Jugendlichen bei großkalibrigen Waffen von 14 auf 18 Jahren anheben, dann bedeutet dies bspw., dass diese Jugendliche überhaupt nicht mehr zu gewinnen sind für diesen Sport, weil sie mit 18 längst anderswo engagiert sind. Also wir haben es verschärft so weit überhaupt noch umsetzbar war. Gleichwohl bin ich der Meinung, wir müssen einfach jetzt mal eine Zeit lang die Erfahrungen auswerten mit dem neuen Waffenrecht und dann noch einmal neu überlegen."

    Der Vater des Amokläufers steht voraussichtlich ab Herbst in Stuttgart vor Gericht. Der Unternehmer wird wegen fahrlässiger Tötung in 15 Fällen und fahrlässiger Körperverletzung in 13 Fällen angeklagt. Die Staatsanwaltschaft wirft dem 51-Jährigen vor, gegen das Waffengesetz verstoßen zu haben. Er soll die Tatwaffe im Schrank im elterlichen Schlafzimmer aufbewahrt, also nicht ordnungsgemäß weggeschlossen haben. Im Prozess muss geklärt werden, ob der Vater fahrlässig gehandelt hat. Hätte der Vater von Tim K. erkennen müssen, dass sein Sohn die Waffe für ein Verbrechen benutzen könnte? Die Menschen in Winnenden und Wendlingen warten auf Antworten.