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In Verbundenheit mit Russland

Liebhaber der russischen Literatur werden an "Ein Sommer in Baden-Baden" gefallen finden. Leonid Zypkin, ein russisch-jüdischer Arzt und Wissenschaftler, entfaltet auf Grundlage detailliert recherchierter Fakten ein facettenreiches Bild des Dichters Fjodor Dostojewski. In der Bewusstseinsstrom-Prosa überlagern sich diese Schilderungen und die autobiografische Geschichte des Autors und seiner Familie 100 Jahre später in der Sowjetunion.

Von Karla Hielscher | 23.03.2006
    Bücher haben manchmal ein spannendes Schicksal. Die Entdeckung dieses russischen Romans über das Leben Dostojewskis ist Susan Sontag zu danken, die das Buch "eines der schönsten, anregendsten und originellsten literarischen Werke des vergangenen Jahrhunderts" nennt. Sie hat es in den 90er Jahren zwischen abgegriffenen Taschenbüchern in einer Londoner Buchhandlung aufgestöbert und keine Ruhe gegeben, bis das 1982 zuerst erschienene, damals aber kaum beachtete Werk, mit einem Vorwort von ihr neu publiziert wurde. 1983 gab es übrigens auch schon eine deutsche Ausgabe in einem kleinen Verlag, die jedoch - mit dem gut gemeinten Versuch, einen breiten Leserkreis anzusprechen - bei der Übersetzung die Originalität von Sprache und Stil verfälschte, ohne das angestrebte Ziel zu erreichen. Inzwischen ist dieses Buch in über ein Dutzend Sprachen übersetzt worden und erschien 2001 endlich auch in Russland.

    Leonid Zypkin war kein professioneller Schriftsteller, sondern ein russisch-jüdischer Arzt und Wissenschaftler, von dem zu seinen Lebzeiten in der Sowjetunion nicht eine Zeile veröffentlicht wurde. Er starb 1982 mit 56 Jahren, wenige Tage, nachdem er erfahren hatte, dass das herausgeschmuggelte Romanmanuskript in einer russischen Emigrantenzeitschrift in New York gedruckt wird.

    Umso mehr verblüfft die literarische Meisterschaft und stilistische Modernität dieses Textes. Im Schnellzug von Moskau nach Leningrad - irgendwann in den 70er Jahren - im dunklen Monat Dezember, liest der Ich-Erzähler das berühmte, aber zu Sowjetzeiten nicht öffentlich zugängliche Tagebuch der Frau Dostojewskis, Anna Grigorjewna, über die Reise des Ehepaars im Sommer 1867 nach Deutschland, nach Dresden und in die Spielerhochburg Baden-Baden. Diese Erzählsituation ist der Ausgangspunkt für die Entfaltung einer grandiosen Bewusstseinsstrom-Prosa, in der sich das genau recherchierte detaillierte Faktenmaterial über den großen russischen Schriftsteller und die autobiografische Geschichte des Autors und seiner Familie 100 Jahre später in der Sowjetunion überlagern. "Dostojewski lieben" - wie Susan Sontag ihren Vorwort-Essay genannt hat - das heißt auch an ihm leiden, sich an ihm reiben, sich durch ihn provoziert fühlen.

    Zypkin imaginiert in seinem Text nicht den erhabenen Dichterfürsten, sondern den schwachen Menschen Dostojewski, den durch die Erniedrigungen im sibirischen Totenhaus verletzten und gedemütigten Psychopathen, den nervösen Epilepsiekranken, den süchtigen Spieler, den jungverheirateten Ehemann mit seinen Ängsten und Komplexen und seiner angespannten Suche nach sexueller Erfüllung. Mit einem immensen psychologischen Einfühlungsvermögen und außergewöhnlicher bildlicher Vorstellungskraft gestaltet Zypkin die schwierige Persönlichkeit dieses genialen Schriftstellers: wie er in fiebriger Hast zwischen Spielcasino, Leihhaus und gemieteter Wohnung in Baden-Baden hin- und herjagt, wie er vor seiner Frau auf den Knien liegt und um das letzte Geld bettelt; er zeigt ihn in seiner ständigen Gereiztheit und mit seinen Wutanfällen, aber auch in seiner überströmenden absoluten Liebe zu der 25 Jahre jüngeren Frau, die im wiederkehrenden Bild des gemeinsamen Schwimmens im Meer einzigartigen Ausdruck findet; er vergegenwärtigt Szenen und Gestalten aus Dostojewskis Romanen, verbindet sie mit eigenen Erinnerungen, versetzt sich ins Unterbewusste dieses komplexbeladenen, unsicheren Menschen, malt dessen Zwangsvorstellungen und Visionen aus und sein widersprüchliches Verhalten, das ständig zwischen Selbsterniedrigung und Auftrumpfen, Demut und Stolz hin und her schwankt. Im Bewusstsein des Ich-Erzählers verschmelzen die Ereignisse seiner Lektüre und sein Nachdenken über Dostojewski unter den Bedingungen der sowjetischen Wirklichkeit zu langen Assoziationsketten, verschränken sich die Zeitebenen, wechseln die Perspektiven.

    Ein quälendes Thema, das ihn nicht loslässt, ist für den jüdischen Arzt, der Familienangehörige in Stalins Gulag und unter deutscher Besatzung im Getto von Minsk verlor, Dostojewskis furchtbarer, offen ausgesprochener Antisemitismus. "Warum übte das Leben dieses Menschen, der mich und meinesgleichen verachtet hatte, eine so merkwürdige, verführerische Anziehungskraft auf mich aus?" fragt er sich.

    Das ganze Buch ist ein einziger Beweis der innigen Verbundenheit des Autors mit Russland und seiner Kultur, mit Puschkin und Turgenjew, mit Solschenizyn und Sacharow, mit den am Zugfenster vorbeiziehenden weiten Schneelandschaften und den verfallenen Häusern der Leningrader Straßen, wo er den Spuren Dostojewskis folgt, der in seinem rastlosen Leben in Dutzenden Petersburger Wohnungen - immer in Eckhäusern an Straßenkreuzungen - gelebt hatte.

    Das Erstaunlichste an diesem Roman eines dem Literaturbetrieb fernstehenden Arztes ist seine Sprache: ein pausenloser, mahlender Bewusstseinsstrom ohne Punkt und Absatz, in dessen Sog der Leser hineingezogen wird und dessen suggestiver Bann ihn bis zum Schluss nicht mehr los lässt. Da sich die Vorstellungswelt und Bilderflut des Erzählers aus unzähligen Motiven, Episoden und Gestalten des russischen Geisteslebens zusammensetzt, ist dies sicherlich vor allem ein Buch für Kenner und Liebhaber der russischen Literatur. Von denen aber sollte es sich keiner entgehen lassen.