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In Verteidigung der Gesellschaft - Vorlesungen am Collège de France (1975-1976).

Im Alter von 43 wurde Michel Foucault ans Collège de France in Paris berufen. Am 2. Dezember 1970 hielt er in diesem Gral des akademischen Geisteslebens seine Einführungsvorlesung und schnell wurde sein Mittwoch zu einer intellektuellen Attraktion. Vor rund fünfhundert Studenten fühlte sich Foucault nach eigener Aussage wie ein zutiefst einsamer Akrobat. Auf Deutsch waren diese Vorlesungen nur sporadisch zugänglich - einige finden sich etwa in den Bändchen des Merve-Verlages. Nun hat Suhrkamp erstmals eine vollständige Vorlesungsreihe aus dieser Zeit zugänglich gemacht: Unter dem Titel "In Verteidigung der Gesellschaft" sind die Skripte aus dem Winter 1976 erschienen.

Mark Terkessidis |
    Foucault befindet sich zu dieser Zeit in einem Vakuum. Seit 1969 hat er sich engagiert - in der maoistischen Gruppe "Gauche Prolétarienne" sowie für die Rechte von Gefangenen und Psychiatrisierten. Doch Mitte der siebziger Jahre stellt sich eine deutliche politische Ernüchterung ein. Zudem ist Foucault unzufrieden mit der theoretischen Grundlage jener "verstreuten und unzusammenhängenden Vorstöße" - wie er die "kleinen Kämpfe" selbst in der Vorlesung bezeichnet. Denn die Aktivisten beriefen sich weiterhin auf eine Denkweise, die Foucault kurz darauf in "Der Wille zum Wissen" abfällig "Freudomarxismus" nennen wird.

    In den Vorlesungen deutet sich diese Stoßrichtung bereits an. Während die Beteiligten an den Kämpfen glaubten, sie würden ihre Individualität gegen eine von außen kommende Macht verteidigen, hält Foucault das Individuum selbst für eine produktive Erscheinung dieser Macht. Daher spricht er zu Beginn der Vorlesung nicht den allgegenwärtigen Aspekt der Befreiung an. Vielmehr glaubt er, die Kämpfe hätten eine "Wiederkehr" von lokalen, "unterworfenen Wissensarten" mit sich gebracht - zum ersten Mal seien die gewöhnlich disqualifizierten Erfahrungen der Gefangenen und Kranken gehört worden. Dieses Wissen will Foucault mit seiner eigenen Gelehrsamkeit anreichern, um damit dem herrschenden Positivismus einen Schlag zu versetzen. Ausdrücklich wünscht er sich eine "Anti-Wissenschaft".

    In diesem Sinne will er zunächst einen neuen Begriff der Macht entwickeln. Foucault sieht Macht als "Kräfteverhältnis" - und verlangt nach Analysekategorien wie Kampf, Konfrontation und Krieg. Und so dreht er das Clausewitz-Bonmot vom Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ganz einfach um und fordert dagegen, die Politik als Fortsetzung des Krieges zu betrachten. Freilich lehnt sich Foucault damit nicht an bekannte Kriegsdenker wie Thomas Hobbes an, der Mitte des 17. Jahrhunderts vom "Krieg aller gegen alle" sprach. Denn Hobbes, der Ideologe des Absolutismus, ist für ihn der Fürsprecher der gesellschaftlichen Befriedung. Dagegen sucht er in den Vorlesungen nach den wahren Theoretikern des Krieges - nach solchen, die gerade unter der Fassade des Friedens nach dem Krieg suchen.

    Am meisten interessiert ihn eine "Galaxie von Historikern" im Frankreich der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und unter diesen vor allem der Graf Henri de Boulainvilliers. Hier entsteht seiner Meinung nach ein gänzlich neuer Diskurs. Während Geschichte vorher nichts weiter war als die Erzählung der Vergangenheit des Staates, bildet sich nun eine Art antistaatliches "Gegen-Wissen". Boulainvilliers und andere entstammen dem Adelsstand, der zu dieser Zeit durch die absolute Monarchie und bald auch durch den bürgerlichen "Dritten Stand" massiv unter Druck gerät. In diesem Moment bemächtigen sie sich des Instrumentes der Geschichte, um unter der Befriedung durch den Staat den Krieg zu entdecken. Diesen Krieg, der die Gesellschaft durchzieht und teilt, denken sie sich als Krieg der "Rassen". Foucault lokalisiert also den Moment, in dem die Geschichte erstmals als Einsatz in den politischen Kämpfen dient - mit ihrer Hilfe soll die verschwiegene Geschichte der fortwährenden Unterdrückung einer gesellschaftlichen Gruppe durch eine andere erzählt werden.

    Der Diskurs der "Rasse", meint Foucault, spaltet sich schließlich im 19. Jahrhundert auf. Auf der einen Seite bemächtigt sich der Staat des historischen Wissens. Der Rassismus erhält seine Funktion im Rahmen eines Programms, das Foucault als "Bio-Politik" bezeichnet. Der Staat beginnt, sich mit dem Leben zu befassen - Geburten- und Sterblichkeitsraten werden kontrolliert. Die biologischen Qualitäten der Bevölkerung unterliegen nun einem Prozeß der Vereinheitlichung. Der Rassismus, so Foucault, sei in einer solchen

    "Normalisierungsgesellschaft" die "Bedingung für die Akzeptanz des Tötens". Dabei soll der Tod von ausgewählten Anderen das Leben der Gesellschaft gesünder und reiner machen. Das Paradebeispiel hierfür ist zweifelsohne die nationalsozialistische Judenvernichtung. Auch wenn seine Beobachtungen hier manchmal verstreut und unvollständig werden, auch wenn er den kolonialen Rassismus überhaupt nicht berücksichtigt, ist es dennoch ein großes Verdienst von Foucault, daß er in dieser mäandernden Vorlesung zeigt, wie eng der Rassismus mit dem Staat verbunden ist.

    Aber der Diskurs des "Rassenkrieges" wird auch auf der Seite der Unterdrückten fortgeführt. Foucault findet ihn wieder in der marxistischen Theorie vom Klassenkampf. Doch hier hakt er nicht weiter nach. Eine Vertiefung hätte ihn wohl zu nah an den immer wieder kritisierten Marx herangeführt. Implizit jedoch wird Marx hier als Vorläufer anerkannt. Als junger Mann war Foucault Mitglied der Kommunistischen Partei: Aufgrund des sowjetischen Antisemitismus zu Beginn der Fünfziger trat er aus. Hier in den Vorlesungen zeigt er sich als eine Art Marxist ohne Dialektik und Heilsversprechen. Übrig bleibt eben jener Gedanke, der dieses Buch durchzieht: Man muß den verschwiegenen Krieg im Frieden suchen. Und da Foucault seine Bücher gern als "Werkzeugkisten" bezeichnete, kann uns diese Kiste mit Vorlesungen gerade heute nutzen, um der allgegenwärtigen Rhetorik von Humanität und Frieden zu mißtrauen.