Archiv


In weiter Ferne so nah

So sehr sich das Radio in den vergangenen 80 Jahren verändert hat: die wichtigsten Bestandteile waren von Anfang an da. Zum Beispiel die Zeitansage, die in einer der frühesten Hörerumfragen ganz oben auf der Rangliste der beliebtesten "Sendungen" stand. Was sich aber nach und nach verloren hat, ist das kindliche Staunen über die geheimnisvollen Ätherwellen und ihre schier magische Fähigkeit, Stimmen aus weiter Ferne ins eigene Heim zu übertragen.

Von Ingo Kottkamp |
    Wie ein Wunder muss es den Hörern des Stuttgarter Reichssenders SÜRAG (für Süddeutsche Rundfunk AG) vorgekommen sein, als sie am 31.1.1925, die damals üblichen Kopfhörer an die Ohren gepresst, einer Kurzwellenübertragung aus Pittsburgh, USA, lauschen durften - sofern es bei den oft selbst gebastelten Detektorgeräten mit dem Empfang klappte. Hans Bredow, damals Staatssekretär im Reichspostministerium und entscheidender Wegbereiter des frühen Radios, hatte kurz zuvor in einer Weihnachtsansprache an die amerikanischen Hörer Funkwellen zu Friedensbotschaftern erklärt:

    Es ist doch mithilfe des Radio möglich geworden, Nachrichten in dem Bruchteil einer Sekunde über die ganze Erde zu verbreiten. Diese Entwicklung hat dazu geführt, dass wir heute die Erde als gemeinsamen Sprechsaal ansehen können, ganz gleich, ob wir Nachbarn sind oder Antipoden.

    Dass der gemeinsame Sprechsaal später zu einem militärisch in Freund- und Feindsender abgeteiltem Gebiet werden würde, davon wollte Bredows Enthusiasmus noch nichts wissen. Die von ihm beschworene Funkbrücke über den Atlantik aber verband schon damals zwei sehr unterschiedliche Radiowelten.

    Radio will in Deutschland keine Sensation sein.

    Und die war es auch nicht. Während draußen in der Weimarer Republik Straßenkämpfe, Separatimusbewegungen und die Inflation die Straßen beherrschten, gab es im Äther ab 20 Uhr Gediegenes: Wagner, Puccini und Gluck in Gesamtaufführungen oder monumentale Sendereihen wie "Mozart - sein Leben und Werk" in 32 Folgen à drei Stunden.

    Alle diejenigen, die bisher, aus sozialen Gründen oder weil sie weitab von Kulturstätten lebten, den geistigen Dingen des Lebens ferner standen, wird durch Vorträge auf allen Gebieten von Kunst, Technik und Wissenschaft vorwärts geholfen.

    Damit war das Vorabendprogramm gemeint. Ob NORAG in Hamburg, MIRAG in Leipzig oder die Funkstunde in Berlin: auf allen Reichssendern wechselten sich zwischen 18 und 20 Uhr promovierte oder habilitierte Herren im Halbstundenrhythmus mit Vorträgen über "Bibliotheken und ihre Benutzer", "Empfangsschaltungen" oder "Die Rheinflotte und ihre Wettbewerbslage" ab.

    Wer eine Empfangsgenehmigung vom Reichstelegrafenamt zum Preis eines Zeitungsabonnements eingeholt hatte - eine Frühform der GEZ -, erwarb aber auch Anspruch auf die oft verlangte Unterhaltung. Meist wurde sie in Form von "Bunten" oder "Lustigen Abenden" geboten, die hauptsächlich Operettenmelodien oder populäre Klassikarrangements brachten. Nachmittags wurden mit dem "Bastelfunk" oder der "Hauswirtschaftlichen Frauenstunde" Ratgeberprogramme gesendet, und spät abends, kurz vor Sendeschluss, war manchmal in der Übertragung eines Kaffeehauskonzertes so etwas ähnliches wie Jazz zu hören.

    Good Evening, Ladies and Gentlemen, the radio audience, this is Graham Magnammy speaking. We bring you a series of delightful entertainment, sponsored by Coca-Cola.

    Die zahllosen lokalen Sender, die in dieser Zeit in den USA aus dem Boden schossen, hatten nicht nur in Punkto Werbefinanzierung ein völlig anderes Konzept. Mit Slogans wie "Voice of the prairie", "Mecca of the tourists" oder "Gold Spot of the South" warben die Stationen für ein Unterhaltungsprogramm aus Musiksendungen, Comedyserien und Predigten. Der warmherzige Ton der einstigen Radiohosts klingt auch uns Deutschen vertraut - schließlich hat sich das Konzept des Tagesbegleitmediums längst auch hier weit gehend durchgesetzt.

    Was aber war die Botschaft, die 1925 von Pittsburgh nach Stuttgart ging? Die Antwort ist profan: der amerikanische Turnerbund grüßte Deutschland. Da denkt man gleich an die seit den Anfängen des Rundfunks nicht totzukriegenden Grußsendungen - es ist eben alles schon mal da gewesen.