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Inbrunst und Klarheit

Der hellsichtige Kurt Tucholsky befand einmal: Das Volk ist doof, aber gerissen. So hat der Volks-Mund auch längst erkannt: "Und wenn das fünfte Lichtlein brennt, dann haste Weihnachten verpennt." Um dem vorzubeugen, soll heute von einer Doppel-CD die Rede sein, die man getrost zu Weihnachten verschenken kann, sofern man es nicht vorzieht, sie für sich zu behalten:

Von Norbert Ely |
    * Musikbeispiel: J.S.Bach/Wilhelm Kempff - Jesu bleibet meine Freude, BWV 147 (Ausschnitt)

    Da macht einer Ernst. Der Tonfall lässt keinen Zweifel zu. Er lässt auch unbedingt aufhorchen. Ein Pianist scheint da am Werk, der begriffen hat, dass Inbrunst und Klarheit einander nicht feind sind, so wie die großen Mystiker des Mittelalters vor allem ja auch große Denker waren, die die Analytiken eines Aristoteles sehr wohl verinnerlicht hatten. Der Pianist ist Gerhard Oppitz; für Hänssler Classic hat er eine Doppel-CD mit dem sachlichen Titel "Johann Sebastian Bach - Transcriptions & Variations" eingespielt. Darauf finden sich neben den Variationen mit Fuge op. 81 von Max Reger drei Großwerke von Franz Liszt, zwei Bach-Bearbeitungen von Ferruccio Busoni und etliche Transkriptionen des großen Wilhelm Kempff, an den man in der Tat immer mal wieder erinnern muss, denn hierzulande werden, anders als etwa im benachbarten Frankreich, die tieferen Geister möglichst rasch vergessen.

    Und sie haben Tiefe, die Bearbeitungen Bach’scher Choralvorspiele durch Kempff. Kempff wuchs als Sohn eines Organisten auf. Seinen Jugenderinnerungen gab er den poetischen Titel "Unter dem Zimbelstern". Es ist beeindruckend, wie Gerhard Oppitz, der aus seiner Verehrung für Kempff keinen Hehl macht, in den sechs Choralvorspielen nicht nur den Anschlag dieses großen Pianisten anklingen lässt, sondern auch dem klassischen Legato der deutschen Organistentradition die Reverenz erweist.

    Ganz anders erlebt man ihn dort, wo es - O Ewigkeit, du Donnerwort! - um die ewige Spannung zwischen den überlieferten Bach’schen Texten und dem hochvirtuosen, orchestraler Wirkungen fähigen spätromantischen Konzertflügel geht. Aus dieser Spannung bezieht die Doppel-CD ihren außerordentlichen Reiz. Dabei wurden zum Beispiel Liszts Präludium und Fuge über B-A-C-H nun wirklich für eine Orgel geschrieben, nämlich für die damals neue Orgel im Merseburger Dom, für die der Orgelbauer Friedrich Ladegast übrigens etliche der barocken Register beibehalten hatte, ebenso wie er weiterhin eine mechanische Traktur verwendete. Hier sah sich Gerhard Oppitz bei seiner CD-Aufnahme mithin der Aufgabe gegenüber, die Transkription der Transkription zu spielen, und das war nun offenbar wirklich der Moment, an dem der Pianist durchbrach.

    * Musikbeispiel: Franz Liszt - Prélude (Ausschnitt) aus: Präludium und Fuge über das Motiv B-A-C-H

    Der Pianist bricht hervor; aber er geht nicht durch mit Gerhard Oppitz. Der konnte immer schon seine überwältigenden technischen Mittel auf eine Weise disziplinieren, dass am Ende alles klar war. Das muss bei Max Regers Variationen und Fuge über ein Thema von Johann Sebastian Bach op. 81 ein hartes Stück Brot gewesen sein. Denn Reger suchte sich als Thema nicht irgendwas aus, sondern das Vorspiel zum Duett "Sein Allmacht zu ergründen, wird sich kein Mensche finden" aus der Himmelfahrtskantate. Teufel auch, denkt man! Da tut sich für den normalen Sterblichen der Eingang zum Inferno auf, und man wird an Messiaen gemahnt, der die göttliche Trinität im dreifachen Tritonus, id est: im dreifaltigen Diabolus in Musica zu repräsentieren suchte und damit bei Organisten wie Publikum für eine nicht geringe Verwirrung sorgte. Aber Oppitz kriegt - dem Apollon wie dem Albertus Magnus sei gleichermaßen Dank gesungen! - Überlegung in diese Unergründlichkeiten, und das ist sowohl seinem unabhängigen Geist als auch seinen unabhängigen Fingern zu danken, insonderheit jedoch jenen Glockentönen von strahlender Klarheit, mit denen immer wieder die Angelpunkte des fortschreitenden Denkens markiert werden, als gelte es die Thesen des Archimedes Lügen zu strafen. Kurz: Plötzlich, d.h. nach knapp 25 Minuten, sind die Variationen um, und der geneigte Hörer denkt, dass er sie nun kapiert habe. Doch in diesem Augenblick hebt die Fuge an und der Pianist ab:

    * Musikbeispiel: M. Reger - Fuge (Ausschnitt) aus den Variationen und Fuge über ein Thema von Johann Sebastian Bach, op.81

    Das ist kein Thema mehr. Das ist eine ganze Psychoanalyse, und es beginnt, wie im richtigen Leben, das nächste Elend schon, bevor das erste geendet. So geht das weitere knapp zehn Minuten. Spätestens bei der Schlusskadenz bewundert man den Pianisten wie Lessing die Laokoongruppe. Kein Spaß: Hier geht es um den Ernstfall von Musik.

    * Musikbeispiel: M. Reger - Fuge (Ausschnitt) aus den Variationen und Fuge über ein Thema von Johann Sebastian Bach, op.81

    Allein schon des Opus 81 von Max Reger wegen lohnt der Erwerb dieser Doppel-CD des Pianisten Gerhard Oppitz. Deren eigentliche Bedeutung indes dürfte darin liegen, dass hier so zwingend wie selten einmal die formbildenden Energien dargestellt werden, die dem Klavierspiel aus der Musik Bachs zuwachsen, seit das Pianoforte in den 1860er Jahren endgültig zu sich selbst gefunden hat. Einer der Protagonisten des modernen Klavierspiels war ohne Zweifel Ferruccio Busoni. Und auch hier kann man eine erstaunliche Erfahrung machen. Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts experimentierte der amerikanische Komponist Stephen Scott mit dem Colorado College New Music Ensemble. Zu zehnt scharte man sich um einen Konzertflügel, und jeder Musiker zog im vorgeschriebenen Rhythmus ein Bündel Streicherbogenhaare unter jeweils einem Saitenchor hin und her. Das ergab Klänge aus dem Zwischenreich von Klavier und Streichinstrument. An diese durchaus besondere Farbe erinnert das Klavierspiel von Gerhard Oppitz im Beginn der Chaconne d-moll - vor allem dank des extremen Obertonreichtums. Die Chaconne ist ja nun tatsächlich als Finale der d-moll-Partita für Violine solo geschrieben. Ferruccio Busoni komponierte die bekannteste Klavierbearbeitung.

    * Musikbeispiel: J.S.Bach/F.Busoni - Chaconne aus der Violinpartita d-moll, BWV 1004 (Ausschnitt)

    Es bleibt freilich nicht bei diesem Anfang. Gerhard Oppitz entwickelt die Bach-Busoni’sche Chaconne geradewegs zur sinfonischen Dichtung, lässt das Pianoforte zum Orchester werden und transkribiert den Pianisten zum faustischen Dirigenten, der unbedingt mit eigenen Händen greifen will, was die Musik im Innersten zusammenhält.

    * Musikbeispiel: J.S.Bach/F.Busoni - Chaconne aus der Violinpartita d-moll, BWV 1004 (Ausschnitt)