Donnerstag, 18. April 2024

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Inbrunst unter Tropenhimmel

Von Deutschland aus gesehen, erscheinen die Niederlande im zwanzigsten Jahrhundert als idyllisch und ein bisschen banal. Ein friedliches Ländchen, mit fleissigen, freundlichen Einwohnern, vielen Kühen und großen Tulpenfeldern. Und Sandstränden, die im Sommer von halb Nordrhein-Westfalen bevölkert werden. Ein Land, das wir Deutsche gut genug zu kennen meinen, um es uninteressant zu finden. Die Lektüre von Geert Maks neuem Buch Das Jahrhundert meines Vaters belehrt uns schnell eines Besseren. Wer sich in dieses grosse historische Panorama hineinziehen lässt, dem zeigen sich in der vermeintlich flachen Landschaft plötzlich dramatische Klüfte und die Spuren tiefer Konflikte. So, wie wir unser Nachbarland zu kennen glauben, ist es erst in den letzten Jahrzehnten geworden. Was davor war, was wir durch Geert Maks Darstellung kennen lernen, ist fremd, eigenartig, faszinierend - und auch für Deutsche höchst lehrreich. "Das Jahrhundert meines Vaters" - also des Vaters von Geert Mak - ist das 20. Jahrhundert. Ein alles andere als friedliches Jahrhundert, ein Jahrhundert, wie Mak schreibt, ...

Martin Ebel | 14.12.2003
    ...das aus Europa jahrelang ein einziges großes Killing Field machte. Insgesamt sind in den vergangenen hundert Jahren ungefähr 115 Millionen Europäer durch politische Gewalt ums Leben gekommen: 13,5 Millionen im Ersten, 41,3 Millionen im Zweiten Weltkrieg, 54 Millionen in der Sowjetunion bei Verfolgungen und Hungersnöten zwischen 1917 und 1953. Dazu kommen noch die vielen Millionen, die bei Deportationen und ethnischen Säuberungen von Haus und Hof vertrieben wurden. Und auf den immensen materiellen Schaden gehe ich erst gar nicht ein, auf die zerstörten Städte wie Warschau, Dresden, Rotterdam, Coventry, Ypern, das kulturelle Vermächtnis vieler Generationen, das für immer verloren ging.

    Der Anteil der Niederlande an diesen horrenden Opferzahlen ist klein. Aber jedes Opfer muss als ein Mensch, nicht als Zahl in der Statistik betrachtet werden - dies ist Motiv und Grundlage der für einen Historiker überraschenden Verschränkung von "großer" und privater Geschichte, wie sie Mak das ganze Buch, das ganze Jahrhundert hindurch praktiziert.

    Zwei große schwarze Flecken zeigt uns Mak auf der vermeintlich weißen historischen Weste seines Heimatlandes: Niederländer haben als Helfer bei der Verfolgung und Ermordung holländischer Juden Schuld auf sich geladen, und sie haben in Ostindien über Jahrzehnte ein grausames Kolonialregime aufrechterhalten. Mit beiden Flecken taten sich die Niederlande schwer; es hat lange gebraucht, bis fast in unsere Tage, bis sie die Tatsachen akzeptierten. Daher, meint Mak, rührt übrigens auch das zwiespältige Verhältnis seiner Landsleute zu ihren deutschen Nachbarn.

    Die Niederländer der Vorkriegsgenerationen hatten sich recht stark an Deutschland orientiert. Man sang deutsche Lieder, sprach flüssig Deutsch, las deutsche Literatur. Von dieser kulturellen Ausrichtung blieb nach 1945 so gut wie nichts übrig.

    In den fünfziger Jahren pflegte man das Idealbild des tapferen kleinen Volkes, das sich kollektiv im Widerstand befunden habe, wenigstens im passiven; die Deutschen galten ebenso kollektiv als Täter.

    Als jedoch in den sechziger Jahren die ersten umfangreichen Studien zum Massenmord an den niederländischen Juden erschienen, lösten sie starke Verunsicherung aus. Die aktive Mitwirkung der niederländischen Polizei, der Meldebehörden, der Eisenbahn, das passive Zuschauen zahlreicher anderer - mit Scham und Wut blickten viele Niederländer auf ihre eigenes Verhalten zurück. Und viele dieser unangenehmen Gefühle richtete man wiederum gegen die Urheber all des Elends. Nicht nur das große Morden wurde den Deutschen zur Last gelegt, sondern auch die Besudelung des lieb gewonnenen Idealbilds.

    Das blutige 20. Jahrhundert betraten die Niederlande nicht gerade als "verspätete Nation", aber durchaus mit Verspätung. Anders als beim Nachbarland Belgien wurde ihre Neutralität 1914 von den Deutschen nicht verletzt, und so blieb ihnen der Erste Weltkrieg erspart. Erspart blieb ihnen der entsetzliche Blutzoll, aber auch der Schock, der die Gesellschaften Deutschlands und Frankreichs erschütterte. Erspart blieb ihnen damit schließlich auch der Modernisierungsdruck. In vielem ähnelten die Niederlande sogar noch Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg jenem Bild, das Geert Mak ganz zu Anfang seines Buches entwirft: Das einer langsamen, ja statischen Gesellschaft. In den fünfziger Jahren lebt Geert Maks Familie - er selbst ist 1947 geboren, ein Nachzügler in dieser kinderreichen Familie - in Leeuwarden, der Hauptstadt der Provinz Friesland, wo sein Vater eine Pfarrerstellen bekommen hat.

    Es war in jenen Jahren eine stille, ein bisschen heruntergekommene Stadt, geführt von einem mageren sozialdemokratischen Bürgermeister, der auf einem schwarzen Fahrrad durch die Stadt fuhr und wegen seiner vegetarischen Grundsätze meist Adriaan der Grasfresser genannt wurde. Über den Westersingel fuhr noch dieselbe, von einem Kabel gezogene Fähre wie im Jahre 1910, und zum gleichen Tarif: drei Cent. Unser Lebensmittelgeschäft bestand auch schon ein Jahrhundert: ein immer warmer und voller kleiner Laden, voll gestopft mit Lebensmitteln, Eimern, Bürsten, Besen, Tauen, Kabeln, Petroleumfässern und anderem Schifferbedarf. Es gab eine einzige Kreuzung mit Ampeln, an der immer ein Polizist wachte. Hin und wieder kam ein Auto vorbei, aber wir konnten in Ruhe auf der Straße spielen. Es gab noch Pferdefuhrwerke, große, rasselnde Wagen mit gewaltigen belgischen Kaltblütern davor, ihre Ställe, schräg gegenüber auf der anderen Seite unserer Gracht, rochen wild und gefährlich.

    Unverändert überstanden hat Weltkrieg und Besatzungszeit auch eine Besonderheit der niederländischen Gesellschaft, die deutschen Lesern eigentümlich vorkommen muss: Die "Versäulung" des Landes. Damit gemeint ist die Organisation des gesamten gesellschaftlichen Lebens nach der religiösen Zugehörigkeit. Geert Maks Eltern gehören der orthodox-kalvinistischen Kirche an, die sich in den Zwanziger Jahren von der offiziellen kalvinistischen Staatskirche abgespalten hatte. Außerdem gab es noch Katholiken. Jede Glaubensrichtung hatte ihre eigenen Kirchen, Zeitungen, Schulen, Universitäten, Sportvereine und Radiosender, und das war auch in den fünfziger Jahren in Friesland noch so, wie sich der Autor erinnert:

    Am Westersingel in Leeuwarden lasen wir hauptsächlich orthodox-kalvinistische Zeitungen. Mein Bruder Hans und ich besuchten eine orthodox-kalvinistische Schule mit ebensolchen Lehrern und Lehrerinnen. Tineke und Cas studierten an einer Universität der Kirche, der Gemüsemann gehörte unserer Glaubensrichtung an, der Lebensmittelhändler ebenfalls, unser Bäcker natürlich auch, die Pfadfinderschaft sowieso, und meine Eltern wählten die entsprechenden Parteien. Die ganze Welt war orthodox-kalvinistisch, einschließlich der Zäune um die Häuser und der Blätter an den Bäumen.

    Unüberhörbar der Sarkasmus des Autors, der sich längst von jeder religiösen Bindung gelöst hat. In seinen Augen führte diese Versäulung zu einer Verengung des Blickes und zu einer Kleingeistigkeit, die die gesellschaftlichen Entwicklung der Niederlande gebremst und zu einer markanten Rückständigkeit geführt hat. Fatale Folgen zeigten sich etwa bei der Flutkatastrophe 1953, als überall im Land Bürgermeister und andere politische Verantwortliche sich als unfähig erwiesen, die Lage zu meistern. Sie verdankten ihre Position eben der Zugehörigkeit zu einem Verein und ihrem Glauben, nicht ihren Fähigkeiten. (Vergleichbares lässt sich in Belgien bis heute beobachten.) Diese Versäulung fand ihr Ende erst in den späten Sechziger und frühen Siebziger Jahren, als die religiösen Bindungen sich für die meisten Niederländer ohnehin lockerten oder ganz lösten.

    Maks Vater stand als Pfarrer an der religiösen Front nicht so sehr gegen die anderen Konfessionen, gegenüber denen die Toleranz an Indifferenz grenzte, sondern innerhalb der eigenen, kalvinistisch- orthodoxen Bewegung. Zweimal wurde er in den Streit um die richtige Bibelauslegung verwickelt, der die Gemeinschaft spaltete, ihm selbst schwierige Entscheidungen abnötigte, die ihm tiefe Seelenpein bereiteten und Freundschaften zerstörten. Er war indes mehr Seelsorger als Theologe, und die Erfüllung als Seelsorger fand er ausgerechnet in jenen Jahren, die die elendsten waren und ihn an den Rand des Todes brachten. 1928 war Vater Mak nach Sumatra geschickt worden, in jenes riesige Kolonialreich, von dem die Niederlande ökonomisch zehrten, mit deren Verwaltung und Kontrolle sie sich aber völlig übernommen hatten (was sie aber bis zuletzt leugneten).

    Im Mutterland wurden stets zwei Dinge unterschätzt: die Größe des Kolonialreichs - eine Fläche, die sich, auf die alte Welt übertragen, vom Nordosten der Türkei bis nach Irland erstreckte - und die Anzahl der Europäer, welche die niederländische Verwaltung aufrechterhielten: Bei einer Gesamtbevölkerung von 60 Millionen waren es nicht viel mehr als hunderttausend.

    Und die wollten auch geistlich betreut werden, natürlich jeder nach seiner Konfession.

    Zweihunderfünfzig Gemeindemitglieder wohnten in
    Medan, die übrigen dreihundertfünfzig waren über halb Sumatra, Singapur und Malakka verstreut, ein Gebiet, das - in europäischen Dimensionen - von Südfrankreich bis nach Schottland reichte. All diese "Verstreuten" musste mein Vater zweimal im Jahr besuchen.


    Die Familie sah ihn also nur selten, und dann lange Zeit gar nicht mehr: 1941 brach auch in Ostasien der Krieg aus, und bald besetzten die Japaner das Gebiet, das die Niederländer vermeintlich beherrschten. Sie sperrten die Frauen und Kinder in Lager und verpflichteten die Männer zur Zwangsarbeit. Viele Tausend von ihnen mussten, gemeinsam mit englischen und australischen Kriegsgefangenen, die Trasse der berüchtigten Burma-Eisenbahn durch den Dschungel legen, unter unvorstellbaren Bedingungen. Vater Mak betreute diese Zwangsarbeiter, litt mit ihnen, hungerte mit ihnen, hoffte mit ihnen, half den Kranken, begrub die Gestorbenen. Über Jahre ohne Verbindung zu seiner Familie,
    bewegte er sich in diesem Elend, wie der Sohn schreibt, "wie ein Fisch im Wasser". Schwer fiel es ihm, sich nach dem Krieg wieder an geordnete europäische Verhältnisse zu gewöhnen.

    Idyllisch war das Leben der Familie Mak also keineswegs. Am ehesten passt der Begriff noch auf das der vorangehenden Generation. Großvater Mak übte als Spross einer Segelmacherfamilie in Schiedam an der Maasmündung das ererbte Handwerk ebenfalls aus. Breit ausladend schildert Geert Mak die Atmosphäre des beginnenden Jahrhunderts, eine Welt ohne Autos und elektrischen Strom, in der Geschäfte durch mündliche Absprachen getätigt wurden und der Raum nach menschlichem Maß gemessen wurde:

    Straßenbahn und Fahrrad waren noch nicht allgemein verbreitet. Die Infrastruktur von Stadt und Land orientierte sich an Entfernungen, die zu Fuß bewältigt werden konnten: Jedes Dorf war das Zentrum eines Gebiets, das man in einer Stunde durchqueren konnte. Jeder Landstrich hatte bis 1909 sogar seine eigene Zeit: Zwischen dem Osten und dem Westen der Niederlande gab es mindestens fünfzehn Minuten Zeitunterschied.

    In jener Zeit empfand und verhielt man sich mit 35 schon wie ein gesetzter Herr, dem es nicht eingefallen wäre, sich zu beeilen. "Alt und gediegen" waren so angesehene Werte wie heute jung, dynamisch, flexibel, und wenn Mak diese Zeit beschwört, dann scheint sie tatsächlich stille zu stehen. Er beschwört sie zuallererst in Sinneseindrücken, in Gerüchen und Geräuschen, rekonstruiert dann aber auch die Empfindungen und das Selbstverständnis der alten Niederländer. Dass ihm das auf überzeugende Weise gelingt und nicht bloß literarischer Kunstgriff bleibt, liegt eben an dem gewagten "parti pris" dieses außergewöhnlichen Historikers: Er verschränkt konsequent seine Familien- mit der Weltgeschichte, folgt nicht nur dem Weg Hollands durch das mörderische zwanzigste Jahrhundert, sondern eben auch den Wegen seiner Eltern, seiner älteren Geschwister, Onkel und Tanten. Die weiblichen Mitglieder erweisen sich als besonders wertvolle Zeugen, schon deshalb hätte das Buch auch "Das Jahrhundert meiner Mutter" heißen können. Zu den üblichen Quellen und Hilfsmitteln des Geschichts- und Gesellschaftswissenschaftlers - Zeitungen, Statistiken, Dokumente, Archive - tritt das Privatarchiv und die Familienüberlieferung, treten Briefe, Tagebücher, persönliche Erinnerungen und Berichte. All dies, geordnet, arrangiert und nacherzählt von einem Historiker, der ein ebenso guter Schriftsteller ist, führt dazu, dass Geert Maks Buch "Das Jahrhundert meines Vaters" Geschichte tatsächlich erlebbar, man möchte fast sagen: hörbar, schmeckbar, fühlbar macht.

    Schon deshalb spielen Fragen des Alltags und seiner Bewältigung die zentrale Rolle. Und in dieser Perspektive erweisen sich die vermeintlich unspektakulären Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg als die eigentlich revolutionären. Denn nicht die verheerende Wirtschaftskrise der Dreißiger, nicht die Besatzungszeit haben die Lebens- und Verhaltensweisen in markanter Weise beeinflusst; 1945 machte man weiter wie zuvor, inszenierte eine neue Kirchenspaltung über ein dogmatisches Mikroproblem oder versuchte erneut, die renitenten Indonesier unter die Knute zu zwingen.

    Wirklich verändert haben sich die Niederlande durch die "Demokratisierung des Luxus" also den gewaltig gestiegenen Lebensstandard seit den Sechziger Jahren. Der bedeutet unter anderem: Verweltlichung, Emanzipation der Frau und der Jugend, geistige Öffnung, aber auch die Dominanz des Konsums. Ein Beispiel für die Originalität des Makschen Zugriffs auf die Geschichte ist die Veränderung der Wohnzimmergestaltung durch das Fernsehen, wie er sich aus dem Vergleich historischer Photographien ergibt.

    Die Bilder von 1964 zeigen, dass in jener Zeit fast überall noch der Esstisch würdevoll in der Mitte des Zimmers stand. Hier und da war schon ein Fernsehgerät zu sehen, meistens in einer Ecke, hinter einem Lehnstuhl. Fernsehen war ein Unternehmen, für das man erst Möbel verschieben musste, wie für die Vorführung eines selbst gedrehten Films. Die Fotos vom Ende der sechziger Jahre lassen erkennen, dass der Fernseher in den meisten Wohnbereichen zum zentralen Punkt geworden war, um den sich alles drehte. Der große Esstisch wurde aus dem Zentrum an den Rand gedrängt. Alles, was noch die Sicht auf den Fernseher hätte verstellen können, war verschwunden, und alle Familien hatten eine Couchgarnitur angeschafft, damit man gemeinsam fernsehen konnte. Die gesamte Inneneinrichtung hatte man dem Fernseher untergeordnet.

    Geradezu rührend erscheint da die Rede, mit der der Staatssekretär im Bildungsministerium die erste TV-Sendung eröffnete: Er warnte darin vor den Gefahren der Massenunterhaltung, warnt also im Fernsehen vor dem Fernsehen. Das ist das kalvinistische Holland, wie es leibt und lebt - damals jedenfalls.

    Nun ist Mak kein wertfreier Präsentator historischer und familiärer Anekdoten. Er scheut vor Wertungen, vor harten und harschen Urteilen nicht zurück. Die niederländischen Regierungen, vom Ersten Weltkrieg verschont, aber auch von den von ihm ausgehenden Lernprozessen, waren vollkommen blind für die Bedrohung durch Hitlerdeutschlands und deshalb völlig unvorbereitet auf eine Besatzung.

    Die niederländische Armee besaß in jenen Jahren nicht einen einzigen Panzer. Die Kanonen wurden fast alle noch von Pferden gezogen. Die Uniform war aus schlechtem Material, unbequem und behindernd. Der einfache Soldat war mit einem schweren, österreichischen Gewehr ausgerüstet, das vor einem halben Jahrhundert konstruiert worden war. Nie hat man auch nur das Nächstliegende in Angriff genommen, den Aufbau eines Kommunikationsnetzes zwischen einer möglichen Exilregierung und einem besetzten Holland. Charakteristisch für die Moral der niederländischen Truppen ist der fast klassische Satz aus einem Gefechtsbericht jener Maitage von 1940: "Dann wurde es lebensgefährlich, und wir zogen uns zurück.

    Das mag auf heutige Leser sogar sympathisch wirken. Weniger sympathisch ist die Tatsache, dass 75 Prozent der holländischen Juden Opfer der deutschen Häscher wurden, das ist der mit Abstand höchste Anteil in einem besetzten Land Westeuropas. Erklärbar ist dieser hohe Prozentsatz nur durch die tätige Mithilfe von holländischen Polizisten. Mak spricht offen von "passivem Antisemitismus" der Holländer und klagt auch die Exilregierung, insbesondere Königin Wilhelmina, an, keinerlei Interesse für die Verfolgung ihrer jüdischen Landsleute gezeigt zu haben. Und mit dem Widerstand war es auch nicht sehr weit her: 25.000 Niederländer haben aktiv gegen die deutschen Besatzer gekämpft, rechnet Mak vor; ebenso viel standen in Verbänden der Waffen-SS an der Ostfront.

    Am schärfsten aber geht der Autor mit der kolonialen Vergangenheit
    ins Gericht. Die Kolonialmacht Niederlande hat unentschuldbare Verbrechen an der indonesischen Bevölkerung begangen. Schon die Eroberung der ostindischen Ländereien kostete Zehntausende das Leben. Dann entfalteten die niederländischen Gutsherren ein Terrorregiment unter den Einwohnern und den so genannten Kulis, Vertrags-Arbeitern, deren Lebensbedingungen nicht besser als die von Sklaven waren. Jede Form von Auflehnung wurde mit grausamen Repressionen beantwortet, und veritable Kriegsverbrecher konnten, nachdem sie in den Kolonien gewütet hatten, ihren Lebensabend unbehelligt in der Heimat verbringen. Die Regierungen der Nachkriegszeit waren blind für den wachsenden Einfluss der Unabhängigkeitsbewegung und weigerten sich, sich ins Unabänderliche zu fügen und Indonesien freizugeben. Ganz im Gegenteil; die verbliebenen niederländischen Truppen beantworteten Terror der Guerilla mit Gegenterror.

    Gefoltert wurde recht systematisch.

    Verdächtige Dörfer wurden gestürmt, Schulen und Wohnhäuser niedergebrannt, Einwohner vertrieben oder umgebracht. Es waren die Amerikaner, die 1949 dafür sorgten, dass die ausgepowerte, aber uneinsichtige Kolonialmacht Indonesien in die Unabhängigkeit entließ und verhinderten, dass noch 1962 ein weiterer Kolonialkrieg um Neuguinea entfesselt wurde.

    Langweilig, banal, idyllisch ist dieser Nachbar tatsächlich nicht. In Geert Maks Darstellung gewinnt er an Tiefe, auch an Relief. Ein solches Relief wirft Schatten. Aber diese Niederlande sind auch flexibel und anpassungsfähig. In 70er Jahren entwickelte sich das einst streng kalvinistische, engherzig-moralische Land für die europäische Jugend zum Paradies der Toleranz - und auch der Abtreibung und des Drogenkonsums. Und dass es die Niederländer, die in den 80er-Jahren fast bankrott waren, aber durch Einsicht in das Unvermeidliche und entschlossenen Gemeinsinn geschafft haben, ihre Sozialsysteme zu sanieren: Das kommt bei Mak leider ein bisschen kurz. Es ist ja auch jüngste Vergangenheit. Aber gerade davon könnten wir einiges lernen; das Gelernte könnten wir gerade heute gut gebrauchen.

    Geert Mak
    Das Jahrhundert meines Vaters
    Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens und Andreas Ecke
    Siedler, 576 S., EUR 28,-