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Indien - Das Leben im Frauen-Altenheim

In Indien leben gut 1,1 Milliarden Menschen. Und in unserer westeuropäischen Wahrnehmung leben in dem Schwellenland vor allem viele junge, gut ausgebildete Fachkräfte. Tatsächlich gehört Indien aber bereits zu den sogenannten "alternden Nationen".

Von Priya Palsule-Desai | 03.04.2010
    Jammuna Deodhar rezitiert aus der Bhagwat Gita, eine der heiligen indischen Schriften. Die 84-jährige zierliche Frau sitzt kerzengerade im Schneidersitz auf ihrem Bett, das dünne graue Haar hat sie zu einem Knoten gebunden. Auf ihrer Stirn trägt sie einen roten Filzpunkt – das Erkennungszeichen einer Hindugläubigen. Obwohl sie in ihrem rosa Kaftan sehr zerbrechlich aussieht, wirkt sie selbstbewusst, sind ihre braunen Augen hinter der Hornbrille hellwach. Jammuna Deodhar ist Rentnerin. Sie lebt in einem Frauen-Altenheim in Pune - nach Mumbai das wichtigste Wirtschaftszentrum im Westen des Landes.

    In einem Altenheim zu leben, ist für eine Inderin ungewöhnlich. Genauso ungewöhnlich ist aber auch das Leben Deodhars: Sie hat 50 Jahre lang gearbeitet, in einem Krankenhaus. Und sie hat nie geheiratet:

    "Ich wollte meinem Land als Krankenschwester dienen. Deshalb habe ich nie geheiratet. Schwiegereltern hätten mir das Arbeiten außer Haus verbieten können. Und ich hätte dann nur eines im Leben gehabt: Kinder, Kinder, Kinder. Und wer weiß überhaupt, ob ein Ehemann mich überlebt hätte?"

    In Indien gibt es nur wenige Frauen in Jammuna Deodhars Alter, die unverheiratet sind. Denn die indische Tradition verlangt die Ehe. Schließlich, so die hiesige Denkweise, sicherten Heirat und Familie auch den Lebensabend. Denn in Indien werden die Alten traditionell in der Großfamilie – der sogenannten "joint Indian family" – von der jüngeren Generation versorgt. Die Eltern leben in der Regel bei der Familie des ältesten Sohnes. Die Pflege im Krankheitsfall ist dann Aufgabe der Schwiegertochter. Doch dieses über Jahrhunderte funktionierende Versorgungssystem zerfällt zunehmend. Die junge Landbevölkerung zieht es wegen der Arbeit in die Großstädte. Aus Geldmangel können sie ihre Eltern jedoch oft nicht mitnehmen, so dass diese auf sich selbst gestellt in den Dörfern zurückbleiben. Aber auch in den städtischen Bildungsschichten hat sich die Haltung zur Familie verändert, wie der Leiter des Altenheims, Ravinder Despande, erklärt:

    "Heute haben Familien in der Stadt nur einen Sohn oder eine Tochter. Diese können oder wollen sich häufig nicht mehr um ihre Eltern kümmern, weil sie viel arbeiten müssen. Und auch, weil sie zunehmend getrennt von ihren Eltern leben wollen. Das wird dafür sorgen, dass mehr Altenheime nachgefragt werden."

    Im Gegensatz zu westlichen Industrienationen, in denen es staatliche Rentensysteme gibt, ist Indien weit davon entfernt, ein Wohlfahrtsstaat zu sein. Nur gut zehn Prozent der Inder sind durch Staatspensionen oder Betriebsrenten abgesichert. Die Mehrheit der Bevölkerung hat keinen Anspruch auf eine Altersrente und ist damit auf die Versorgung durch die Familie angewiesen. Oder sie muss in jungen Jahren bereits selbst vorsorgen. Zwar bekräftigt die indische Regierung, für ein menschenwürdiges Leben ihrer Alten einzutreten und hat sich auch gesetzlich dazu verpflichtet. Doch bislang verlässt sich die Politik auch weiterhin auf die traditionelle Großfamilie als beste Lösung für das Leben im Alter.

    Die einzige direkte finanzielle Unterstützung für verarmte alte Menschen ist eine Pension für mittellose Inder ab 65 Jahren. Diese beträgt aber gerade mal 200 Rupien im Monat. Das sind umgerechnet knapp drei Euro. Ein Betrag, der nicht einmal die Lebenshaltungskosten für eine Woche deckt und von vielen nicht in Anspruch genommen wird, weil sie ganz einfach von dieser Hilfe nichts wissen.

    Es sind vor allem die mehr als 500 nicht-staatlichen Stellen, die sich in Indien um die Alten kümmern, die nicht bei der Familie leben, und die deren Unterkünfte finanzieren. Bisher gibt es gut 1000 Heime im ganzen Land, bei der steigenden Nachfrage ist das nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Und das Wohnen in diesen Unterkünften ist auch bei weitem nicht mit den Standards in Deutschland zu vergleichen. Die Einrichtungen sind häufig nur Schlafstätten, das Pflegepersonal hat oft keine medizinische Ausbildung und Freizeitangebote gibt es kaum. Vor allem für die rüstige Altenheimbewohnerin Jammuna Deodhar bedeutet das: die Zeit tot schlagen:

    "Die Gespräche drehen sich hier nur ums Essen, das nervt mich. Darum beschäftige ich mich hier selbst. Ich schreibe Briefe an die Enkel meiner Geschwister und ich lese englische Zeitungen, damit mein Englisch nicht einrostet."

    Jammuna Deodhars Altenheim liegt auf einem Schul- und Universitätscampus für Mädchen mitten in einem Wohnviertel. Seit 14 Jahren lebt sie nun im Heim. Lange im Voraus hat sich die pensionierte Krankenschwester einen Platz auf der Warteliste des Heimes reservieren lassen. Mit 70 gab sie ihre Stellung in einem Krankenhaus in Kalkutta auf und zog ein. Sie lebt zusammen mit 80 weiteren Frauen in der Einrichtung. Es ist ein reines Frauenheim, denn in Indien sind Altenheime traditionell strikt nach Geschlechtern getrennt. Die rund 18 Quadratmeter großen Zimmer bieten Platz für eine kleine Küchenzeile, ein Bett und Sitzgelegenheiten. Bad und WC werden geteilt. Gemeinschaftsräume oder Speisesaal gibt es nicht.

    Das Zimmer kostet einmalig 40.000 Rupien, rund 570 Euro, inklusive Verpflegung und Betreuung im Krankheitsfall. Monatlich fallen zudem Kosten von 300 Rupien an, also von gut vier Euro. Das Heim gilt mit seiner Ausstattung als Luxuseinrichtung. Gesellschaftlich akzeptiert ist das Leben im Altenheim aber deshalb noch lange nicht. Das hat auch Jammuna Deodhar zu spüren bekommen:

    "Vor einigen Jahren bat mich eine Nichte, zu ihrer Hochzeit zu kommen. Obwohl mich ihre Eltern unter einem Vorwand nicht offiziell eingeladen hatten, ging ich zu der Feier. Dort stellte sich dann heraus, dass sie verheimlicht hatten, dass es mich noch gibt! Das hat mich sehr verletzt. Ich war "unter ihrer Würde". Denn Menschen, die aus gutem Hause kommen, viel Geld und viele Angestellte haben, die haben gefälligst nicht im Altenheim zu leben."

    Jammuna Deodhar ist Bramahnin und gehört damit zur höchsten indischen Kaste. Für ihren Stand hätte es sich gehört, im Alter bei der Familie eines männlichen Verwandten zu leben. Aber das kam für die resolute Frau nicht in Frage.

    "Mein älterer Bruder und seine Frau leben in Mumbai. Wenn ich zu ihnen gezogen wäre, hätte ich sie im Alter pflegen müssen. Also habe ich mir gesagt, ich suche mir was Eigenes."

    Auch wenn ihr Leben in einem indischen Altenheim ganz anders aussieht als in Deutschland, eines hat Jammuna Deodhar mit ihren Altersgenossinnen hierzulande sicher gemeinsam:

    "Die größte Angst, die ich habe, ist, die Kontrolle zu verlieren und dem Personal nicht mehr sagen zu können, was ich will. Dann würden die Leute schlecht über mich reden:'Schaut, da ist sie gebildet und was hat es gebracht? Sie ist ein Pflegefall.' Das würde mich sehr verletzen."