Dass die indischen Ärmsten der Armen, die Unberührbaren einmal in der reichen Schweiz eine Ausstellung bekommen würden, das hätten sie sich selbst wohl am wenigsten vorstellen können. Aber Eberhard Fischer, der ehemalige Direktor des Züricher "Museum Rietberg", lebte in den 1960iger und 70iger Jahren in Indien und begann, jene großformatigen, bunten, bedruckten Baumwolltücher vor allem aus der Region Gujarat zu sammeln, die jene Unberührbaren für ihre religiösen Rituale verwendeten.
Es handelt sich gebeizte und dann mit wiederkehrenden Motiven bedruckte rechteckige Textilien, in deren Zentrum stets eine Mutter, eine Göttin steht. Diese Tücher wurden im 19. Jahrhundert und bis in die nähere Gegenwart dazu verwendet, mitten auf der Straße eine Art temporären Tempel einzurichten. Die halbnomadischen Hersteller dieser Tücher waren Lumpensammler, Saisonarbeiter, Hausierer und eben auch Drucker, die Käufer der Tücher betätigten sich als Straßenwischer, Eseltreiber, Kamel- oder Schafhirten. Alle zusammen durften wegen ihrer Armut und „Unreinheit“ die großen Hindu-Tempel nicht betreten, sagt Johannes Beltz vom "Museum Rietberg".
Gebeizte und mit wiederkehrenden Motiven bedruckte rechteckige Textilien
"Sie leben auf der Straße und praktizieren da auch ihre Rituale und ihre Feste. Sie markieren im öffentlichen Raum … ihren Bereich, indem sie jetzt ein Ritual vollziehen, und grenzen das ab mit diesen Tüchern."
Auch in der Züricher Ausstellung ist ein solcher Tempel eingerichtet: Seine Wände bestehen aus Stoff, das Dach ist eine Art Baldachin, ein Himmelszelt; in der Mitte Blumen und Holzstatuetten, Schellen, Bilder, Tierfigürchen, Sitzkissen, dann aber: ein Schwert und ein Messer. Denn in dieser „armen“ Spielart des Hinduismus wird geopfert.
"Sie haben eigene Göttinnen, die sie verehren. In ihren Ritualen werden Tiere geopfert, Büffel, Ziegen, Geflügel. Das ist etwas, was Sie in den großen brahmanischen Tempeln nicht finden. Das ist nicht akzeptabel, das würde den Tempel verunreinigen."
Und während des Rituals geraten die Priester dann in Ekstase …
"Es ist eine Religion, in der Besessenheit eine große Rolle spielt – das ist auch etwas, was man in den klassischen großen Tempeln so nicht mehr findet."
In den Straßentempeln ergreift die verehrte Göttin vom Priester Besitz, sie redet durch ihn, wenn er zittert, ekstatisch um sich schlägt und tanzt. Bei diesen Tätigkeiten wirft sich der Priester oft ein solches bemaltes Textil über, und zum Dank spendet die Göttin Wohlergehen, Kinder, Wohlstand, Erfolg, sie schützt auch gegen Krankheiten. Auf einem der ausgestellten Tücher sieht man zum Beispiel die Göttin Hadkei – sie schützt vor Hundebiss und Tollwut. Auf dem Tuch fährt sie auf einem von wilden Hunden gezogenen Wagen zu ihrem Schrein. Auf einem anderen Tuch sieht man die Göttin Meladi, die auf einem Ziegenbock in ihrem Tempel sitzt, dahinter Rehe.
In Trance geratene Priester
Solche Tiere werden nicht nur dargestellt, sondern auch real und blutig geopfert. Und die Trance, in die die Priester geraten, ist durchaus systematisch und mit bestimmten Techniken hergestellt.
"Meistens sind das Profis, die das machen. Das ist nicht zufällig, dass man da in Ekstase fällt, sondern das ist auch ein Amt, eine Funktion, die man innerhalb der Gemeinschaft hat, und die wird auch von Profis ausgeübt, die wird auch innerhalb einer Familie weitergegeben. Und da gehören dann auch Techniken dazu, Hilfsmittel, dass man sich durch bestimmte Körperbewegungen, durch Rezitieren in Trance versetzt, dass man was konsumiert, da gibt’s verschiedene Möglichkeiten."
Die Ausstellung ist also sowohl ethnologisch wie auch kunst- und religionsgeschichtlich interessant. Denn die mit Beize gefärbten, handgesponnenen Baumwolltücher, die früher mit Stempeln schwarz bedruckt und oft auch mit Ocker und Glimmerpulver bemalt wurden, haben eine ornamentale Schönheit. Heute werden sie vor allem für eine urbane Mittelklasse produziert, die sie zu dekorativen Zwecken nutzt. Und sie sind heute erheblich bunter als früher.
Und die Straßenreligion, zu der man diese Tücher bisweilen immer noch braucht, ist im weitesten Sinne Hinduismus.
"Aber diese Ausstellung zeigt einmal mehr, wie vielschichtig der Hinduismus ist und dass es den Hinduismus als eine Religion gar nicht gibt. Im Grunde ist das ein buntes Gemisch an Traditionen und Religionen."