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Individuell und doch gemeinsam

In der Erika-Mann-Schule in Berlin Wedding lernen hochbegabte und lernbehinderte Schüler gemeinsam. Für diese Integration Behinderter ist die Schule mit dem Jakob-Muth-Preis ausgezeichnet worden.

Von Jens Rosbach | 26.09.2009
    In der Berliner Erika-Mann-Schule treibt ein Drache sein Unwesen: Von den Decken hängen Schleier herab, die sich bei jedem Luftzug geheimnisvoll bewegen. An pinkfarbenen Wänden glitzern verhexte Spiegel. Und im Treppenhaus vibriert eine Harfe, wenn das Ungetüm - so die Schullegende - herumschleicht.

    Nicht nur die Lernatmosphäre der Grundschule erscheint den Kindern märchenhaft, sondern auch der Unterricht. Die elfjährige, türkischstämmige Bilge zum Beispiel schwärmt:

    "Wir dürfen uns den Unterricht aussuchen, was wir machen dürfen. Es gibt leichtere Sachen. Es gibt auch schwere Sachen - und deswegen wir können es uns aussuchen. Ich kann hier besser lernen."

    Die Erika-Mann-Schule in Berlin-Wedding setzt auf Lerninhalte und Lerngruppen, die stark differenzieren - je nach Leistungsfähigkeit der Schüler. Denn die Herkunft der Kinder birgt eine Menge Probleme: Die 600 Schüler stammen zu über 80 Prozent aus Migranten- und Hartz-IV-Familien. Zudem sind fast neun Prozent Integrationskinder - also Kinder, die lernbehindert, autistisch oder extrem zappelig sind.

    Aus diesem Grund wird jede Klasse in drei, vier Leistungsgruppen aufgeteilt - unter Mitbestimmung der Schüler. Die Pädagogen, wie Birgit Habermann, bieten ihnen "vernetzte" Module an mit Aufgaben aus dem Deutsch-, Mathe- und Naturwissenschaftsunterricht; etwa zum Thema Wasser.

    "So haben wir Versuche mit den Kindern gemacht: Wie viel Wasser kann Erde aufnehmen, für unterschiedliche Erde, Blumenerde, Sand oder Lehm. Wirklich ein Thema nicht nur auf der kognitiven Ebene anhand von Arbeitsblättern, Büchern, sondern wirklich auch Begreifen - begreifen mit Händen. Und das ist eben auch für die Integrationskinder eine Ebene, auf der sie ganz toll lernen können."

    Besonders intelligente Kinder - die Schule hat auch drei Hochbegabte - untersuchen derweil schwierigere Fragen. Rektorin Karin Babbe erklärt das Prinzip.

    "Zum Beispiel: Wo bleibt das Wasser, wenn es im Sand versickert ist? Und dazu gehört Internetrecherche ganz genauso wie vielleicht einen Versuchsaufbau zu erproben, wo man das, was man möglicherweise schon herausgefunden hat, dann verdeutlichen kann. Und von diesem Präsentieren lernen auch wieder alle anderen dazu."

    Der zwölfjährige Hussein etwa ist lernbehindert. Der griechischstämmige Junge braucht besonders viel Zeit, um sich etwas zu merken. Bestimmte Inhalte, wie Bruchrechnung, wollen überhaupt nicht in seinen Kopf hinein. Seine Lehrerin berücksichtigt dies - auch bei Klassenarbeiten.

    "Sie sagt zum Beispiel: Wir haben einen Test. Dann sage ich: Ist schwer oder leicht? Dann sagt sie: Es ist - zum Beispiel - leicht. Dann kann ich das auch machen. Wenn es schwer ist, macht sie mir so einen Extrazettel, fast das Gleiche, aber ein bisschen leichter, nur für mich."

    Die Erika-Mann-Grundschule hat nicht nur die Trennung zwischen den Schulfächern aufgehoben, sondern auch die Noten. Bis einschließlich vierter Klasse gibt es nur ein Verbalzeugnis - damit keine Barrieren zwischen den Schülern aufgebaut werden.

    "Wenn die anderen sehr schlau sind, manchmal kommen die zu mir, helfen mir und wir spielen draußen."

    Ballett, Theater, Musik - die Lehrer setzen stark auf Kunst als "universelle Sprache" zwischen den unterschiedlichen Schülern - und auf die Betonung der Stärken, nicht der Schwächen.

    "Mir fällt jetzt gerade ein Mädchen ein, das konnte klasse tanzen. Es war sehr dick, es war sehr übergewichtig. Aber dass es so eine rhythmische Begabung hatte, das war hier möglich, dass sie das zeigen konnte. Und dann war auch ihre Fettleibigkeit, sage ich mal, in dem Moment überhaupt nicht wichtig. Es war wichtig, dass sie gut tanzte. Und das ist wichtig, dass Schule das schafft, das zu zeigen."

    Weitere Erfolgsstrategien: Teamunterricht von zwei Lehrern, Ganztagsprogramme - sowie Pflichtberatungsgespräche mit den Eltern. Viele Mütter und Väter schwören auf die integrative Schule, so wie eine türkische Arzthelferin *, die sich besonders freut, dass ihre Tochter hier kostenlosen Ballett- und Gitarrenunterricht erhält.

    "Ich kann auch nicht sagen, dass wir viel Geld haben. Ich hätte das privat nicht bezahlen können."

    Nach Auskunft der Pädagogen hat die Vorzeigeschule nicht mehr Lehrer zur Verfügung als vergleichbare Schulen in Berliner Problemvierteln. Dennoch erhielten 70 bis 80 Prozent eines Schülerjahrganges eine Empfehlung für Realschulen oder Gymnasien.

    "Was wir hier machen, ist aber auch keine Zauberei."

    "Es erfordert Engagement. Und ohne Engagement und ohne Spaß an der Sache und den Willen und die Motivation, einfach möglichst viele für diese Kinder auch auf den Weg zu bringen, funktioniert es nicht."

    "Und in diesem Zusammenhang haben wir uns natürlich doll über den Jakob-Muth-Preis gefreut. In einem Klima der Wertschätzung und Anerkennung zu arbeiten, beflügelt auch Lehrer, nicht nur Kinder."
    * Wir haben den Namen auf Wunsch entfernt.