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Individuen und Überlebenskünstler

Der klare, kenntnisreiche und kritische Blick Andrea Böhms auf der einen und ihre langjährigen Erfahrungen vor Ort auf der anderen Seite machen ihre Reportagen zu dem aktuell Besten, was es an Afrika-Berichterstattung auf dem deutschen Buchmarkt gibt. Vor allem sind ihre Geschichten bevölkert von einzigartigen Protagonisten und Überlebenskünstlern, die man noch lange nach der Lektüre im Gedächtnis behalten wird.

Vorgestellt von Imogen Reisner |
    "Vorneweg rasen die Beinamputierten auf Dreirädern, ihre Gesichter verzerrt vor Angst, aus der Kurve zu kippen. Auf ihren Ladeflächen türmen sich Kisten und Säcke. Links und rechts schieben, zerren und brüllen ihre Gehilfen, Halbwüchsige mit gesunden, kräftigen Armen und Beinen. Dazwischen lauern, hoch konzentriert, die shegues (die Kinder) auf ihre Chance – einen Unfall, einen Achsenbruch oder eine herunterpurzelnde Kiste. Auf Kniehöhe wischen bullige Kerle ohne Beine vorbei, die sich, den Rumpf fest auf einem Holzbrett mit Rädern, mit den Händen vom Boden abstoßen, geschickt den Schlaglöchern und den Polio-Krüppeln ausweichend, die auf Krücken hinterherspurten und ihre Beine wie trockene Hölzer hin- und herschleudern."

    Dies ist ein exemplarisches Bild aus einem Film über den Kongo, ein Film, der sich vielfarbig, vibrierend, neorealistisch und gestochen scharf – nicht auf der Kinoleinwand – sondern zwischen zwei Buchdeckeln entfaltet. Man sieht, man schmeckt, man fühlt das Leben. Entgegen dem ersten Eindruck ist es keineswegs ein Horrorfilm, denn die Momentaufnahme stammt aus dem Alltag des heutigen Kinshasa, der überaus lebendigen und – aus kongolesischer Sicht – aufstrebenden Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo. Eingefangen von der Reporterin Andrea Böhm in ihrem Buch "Gott und die Krokodile. Eine Reise durch den Kongo."

    Kinshasa mit seinen knapp neun Millionen Einwohnern markiert den bemerkenswerten Anfang und das nicht minder ausdrucksstarke Ende dieser außerordentlichen Entdeckungsreise. Die Journalistin und ZEIT-Redakteurin Andrea Böhm hat sie in mehreren räumlichen und zeitlichen Etappen in den letzten zehn Jahren quer durch dieses riesige Land unternommen. Vom einstigen Léopoldville im äußersten Westen, ehemals Zentrum des Sklaven- und Elfenbeinhandels, bis tief hinein ins unaufgeräumte Landesinnere. Dorthin, wo es keine Infrastruktur mehr gibt, auf Wegen ohne einen Weg und über Straßen, die garniert sind mit badewannengroßen Schlaglöchern. Bis hinüber nach Goma, der Grenzstadt zu Ruanda, dem östlichsten Punkt der Reise. Mal auf vier und manchmal auf zwei Rädern, in die Wildnis und mitten durch die vielerorts stecken gebliebene Zivilisation.

    Dass der Kongo das flächenmäßig zweitgrößte Land des afrikanischen Kontinents ist, hat sich nachhaltig in Andrea Böhms Berichterstattung niedergeschlagen. Denn es geht immer wieder um existenzielle Fragen des Transports von Menschen und Dingen. Bei einer Ausdehnung von 2,3 Millionen Quadratkilometern, von denen der größte Teil unerschlossen und unbeleuchtet ist, ein relativ verständliches Problem. Darüber hinaus handeln Andrea Böhms magische Geschichten aus dem Kongo von Kindersoldaten, Kunst und Kalaschnikows, von Kautschuk und Diamanten, von einem Hauptstadtorchester, das vom Enkel des Heiligen Geistes geleitet wird und nicht zuletzt von dem titelgebenden mit Krokodilen gefüllten Swimmingpool Mobutus.

    Im Unterschied zur üblichen Kongo-Berichterstattung der Kriege und Katastrophen entfaltet die Münchner Vollblutjournalistin ein sehr differenziertes Bild des ehemaligen Zaire. Keinesfalls beschönigt sie Korruption und Kriminalität oder die Verwüstungen der vielen blutigen Konflikte. Auch schaut sie nicht darüber hinweg, dass das tägliche Leben noch immer ein einziges Provisorium ist. Im Kasai beispielsweise, einer Provinz weit im südlichen Landesinneren, trifft Andrea Böhm in der berühmt-berüchtigten Stadt Mbuji-Mayi auf Kinder und Erwachsene, die mit bloßen Händen 30 Meter tiefe Stollen auf der Suche nach Diamanten graben. In den Kivu-Provinzen besucht sie in einer Klinik vergewaltigte und kriegsverstümmelte Frauen und bewundert die Sisyphusarbeit des Klinikpersonals. Im Nordosten des Landes, im Grenzgebiet zu Uganda, begegnet sie dem siebenjährigen Baraka, dem angeblichen Kindergeneral, der sein kriegerisches Image wie eine Rüstung vor sich herträgt und – kein Wort spricht.

    Doch keineswegs schaut die ausgewiesene Kongo-Expertin nur auf Krieg und Elend. Dass dieses Riesenreich weit mehr zu bieten hat, belegt sie in ihrem Buch "Gott und die Krokodile" mit profunden Kenntnissen kongolesischer Kultur und Geschichte, einem kritischen Blick auf die Gegenwart, scharfsichtiger Analyse der aktuellen politischen Strukturen und hartnäckigen Recherchen. Die weder die Ruinen von Kolonialisierung und Globalisierung außen vorlassen, noch verschweigen, wie eng die westliche Welt mit den Missständen und dem Mangel an Fortschritt bis heute verflochten ist. Mit der gleichen Unbestechlichkeit schaut die Reporterin allerdings auch auf den Machtmissbrauch vor Ort und auf die hausgemachten Unzulänglichkeiten.
    Der klare, kenntnisreiche und kritische Blick Andrea Böhms auf der einen und ihre langjährigen Erfahrungen vor Ort auf der anderen Seite machen ihre Reportagen zu dem aktuell Besten, was es an Afrika-Berichterstattung auf dem deutschen Buchmarkt gibt. Vor allem sind ihre Geschichten bevölkert von einzigartigen Protagonisten und Überlebenskünstlern, die man noch lange nach der Lektüre im Gedächtnis behalten wird.

    Wie etwa den Schöpfer der Löffelmenschen, ein Künstler, der seine Werke dem spezifischen Müllaufkommen der Hauptstadt angepasst hat. Oder die Musiker des Symphonieorchesters der Kimbanguisten, die mit unbeschreiblichem Einsatz Händel, Beethoven und Verdi, das heißt

    "( …. ) die Musik toter weißer Männer ( ... ) in einem Hof zwischen aufgescheuchten Hühnern und trocknender Wäsche ..."

    ... zum Klingen bringen. Und die sich, wenn bei der Probe mal eine Saite reißt, mit Bremskabeln von Fahrrädern behelfen. Oder Flöten zum Einsatz bringen, die aus PVC-Rohren geschnitten sind.

    In einem Dorf entlang des Kasai-Flusses wird die resolute Journalistin einmal von 400 Grundschülern mit unerwarteten Ehren empfangen:

    "Ein Junge trat hervor und überreichte mir als Gastgeschenk ein großes Bündel Federn, was ich als einen Hahn und zwei Tauben identifizierte. Nicht tot, sondern lebendig ( ... ).
    Ich starrte auf das zuckende Getier in meiner Hand. ( ... )
    Sie sind hier im Kongo, flüsterte ein Kollege. Hier verschenkt man keine Blumen, hier verschenkt man Vögel. Und jetzt ihre Rede, bitte."


    Locker, lebendig und äußerst genau beschreibt Andrea Böhm das gewöhnliche Leben in den schmutzig-staubigen, feuchtheißen und häufig kriegsversehrten Schauplätzen, die sie aufsucht. Vor allem tut sie das mit großer Sympathie für die Menschen und deren Schicksale, die häufig genug wie Tragikomödien anmuten oder Realsatiren abgeben könnten.

    Solch authentische, spannungsvolle Bilder zu vermitteln, gelingt deshalb so gut, weil Andrea Böhm keinerlei Berührungsängste hat und ganz nah am Geschehen dran ist. Weder übernachtet sie auf ihren Etappen in Luxushotels noch reist sie in klimatisierten Allradmobilen. Wie die Landsleute, deren Geschichten sie aufschreibt, teilt sie ihr Bett mit Ameisen und Kakerlaken und ihre Zeit mit den häufig sehr lästigen Unzulänglichkeiten des afrikanischen Alltags. Da sie nicht nur unerschrocken ist, sondern auch über ein gerüttelt Maß an Selbstironie verfügt, wird man mit dieser "Reise durch den Kongo" nicht nur außerordentlich differenziert informiert, sondern gleichzeitig auf hohem Niveau lustvoll unterhalten.

    Andrea Böhm: "Gott und die Krokodile. Eine Reise durch den Kongo." Pantheon Verlag, München, 2011, 272 Seiten, 14,99 Euro