Die "Freiburger Thesen" der FDP haben für manche Liberale denselben Stellenwert wie die Maos "Rotes Buch" für die Kommunisten. Sie sind geblieben aus einer Zeit, als die FDP für einen sozialen Liberalismus stritt. Kein anderes Programm der Liberalen hat je wieder eine vergleichbare öffentliche Wirkung entfaltet. Als gedrucktes Exemplar 1972 im Rowohlt-Verlag publiziert, haben sich die Thesen tausendfach verkauft. Junge Liberale, wie der stellvertretende Parteivorsitzende Christian Lindner haben heute ein antiquarisch-zerlesenes rororo-Exemplar im Regal.
Der FDP-Politiker Burkhard Hirsch, der mit 82 Jahren noch zur Freiburger Erlebnisgeneration zählt, schrieb vergangenes Jahr, die Thesen seien "ein Manifest, eine Kampfansage an die selbstzufriedene Behäbigkeit einer bürgerlichen Wirtschafts- und Honoratiorenpartei, eine Unabhängigkeitserklärung." gewesen.
Was stand drin im Manifest, in der Kampfansage? - Das Programm gliedert sich in eine Einleitung und vier Kapitel. Schaut man auf die Überschriften und Thesen, die von "Eigentumsordnung", "Vermögensbildung" und "betrieblicher Mitbestimmung" handeln, bekommt man rasch eine Vorstellung, dass es der damaligen FDP um Großes ging.
Die liberale Reform des Kapitalismus erstrebt die Aufhebung der Ungleichgewichte des Vorteils und der Ballung wirtschaftlicher Macht, die aus der Akkumulation von Geld und Besitz und der Konzentration des Eigentums an den Produktionsmitteln in wenigen Händen folgen.
Von der FDP ganz zu schweigen, selbst in der heutigen SPD wären solche Formulierungen nicht mehrheitsfähig. Die damalige FDP aber war in den Nachkriegsjahren und nach der allmählichen Demokratisierung und Liberalisierung des Staates der Meinung, dass die nächste Stufe der bürgerlichen Revolution nunmehr in die Betriebe getragen werden müsse. Die beiden traditionellen liberalen Grundsätze:
1. "Der Staat sind wir alle".
2. "Der Staat darf nicht alles".
Sollte nun auf diese Arbeitswelt übertragen werden. Weiter heißt es:
Der Betrieb sind wir alle.
Industrieuntertanen müssen in Industriebürger verwandelt werden.
Das sollte geschehen durch einen Ausbau der Mitbestimmungsrechte für die Arbeitnehmer, den die sozial-liberale Koalition von Brandt und Scheel dann tatsächlich vollzog. Außerdem wurden Möglichkeiten geschaffenen, Vermögen zu bilden, Eigentum auch an Grund und Boden zu erwerben. Die FDP schlug zu diesem Zweck eine "Reform der Bodenordnung" vor, was mit dem heutigen Ohr gehört, ein wenig an die DDR-Bodenreform erinnert. Tatsächlich ging es mehr um Bewertungs- und Baugenehmigungsverfahren. Ziemlich bemerkenswert war die Forderung nach einer saftigen Erbschaftssteuer in Höhe von bis zu siebzig Prozent. Einer Tabelle im Anhang der Freiburger Thesen kann man allerdings auch entnehmen, dass Erbschaften bis zu einer Millionen D-Mark in der Regel unbesteuert bleiben sollten.
Bemerkenswert ist auch das Kapitel über die Umweltpolitik, wo es erstaunlich früh und erstaunlich modern heißt:
Zu den unabdingbaren Menschenrechten gehört das Recht auf eine Umwelt in bestem Zustand...
..., deshalb muss Umweltpolitik den gleichen Rang erhalten wie soziale Sicherung, Bildungspolitik oder Landesverteidigung.
Das war eine geradezu radikale, mit konkreten Forderungen unterlegte These, formuliert fast zehn Jahre vor Gründung der "Grünen Partei".
Beschlossen wurden die FDP-Thesen Ende Oktober 1971 in Freiburg. Auf dem Parteitag trat der Hauptautor Werner Maihofer auf, sprachen Walter Scheel und Hans-Dietrich Genscher. Eine flammende Rede hielt Karl-Herrmann Flach, der sozialpolitische Vordenker der Partei. Flach, bis dahin bei der "Frankfurter Rundschau" beschäftigt, wechselte in Freiburg auf den neu geschaffene Posten eines "Generalsekretärs" der FDP. Das Freiburger Programm entstand, als sich die FDP, damals nicht anders als heute, in einer schweren Krise befand. Bei der Wahl 1969 hatte sie es mit 5,8 Prozent knapp in den Bundestag und dann in die erste sozial-liberale Koalition geschafft. Die Thesen sollten sie öffnen, sie wandeln von der Partei der Kleingewerbetreibenden, Bauern und Weltkriegsoffiziere zu einer akademisch geprägten, sozialen Rechtsstaatspartei. Tatsächlich wurden dann Wahlen gewonnen und neue Anhänger. Manche von ihnen, wie Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger repräsentieren noch heute einen linksliberalen Flügel der FDP. Der allerdings bald schon von den Marktliberalen um Otto Graf Lambsdorff wieder beschnitten wurde. So interessant sich die Freiburger Thesen gerade mit Blick auf die aktuelle Kapitalismusskepsis lesen, so rasch waren sie vom Zeitgeist überrollt. Mit den "Kieler Thesen" orientierte sich die FDP bereits 1979 wieder zurück zum traditionellen Wirtschaftsliberalismus. Drei Jahre später folgte der Koalitionswechsel zur Union. Freiburg, das war in der FDP also ein kurzer Traum. Und doch begründet der damalige liberale Aufbruch bis heute Zukunftspläne, die über die gegenwärtige Koalition einmal hinausführen könnten.
Karl-Hermann Flach/Werner Maihofer/Walter Scheel:
Die Freiburger Thesen der Liberalen. Rowohlt Taschenbuch-Verlag (Erstausgabe 1972, derzeit nur antiquarisch erhältlich)
Der FDP-Politiker Burkhard Hirsch, der mit 82 Jahren noch zur Freiburger Erlebnisgeneration zählt, schrieb vergangenes Jahr, die Thesen seien "ein Manifest, eine Kampfansage an die selbstzufriedene Behäbigkeit einer bürgerlichen Wirtschafts- und Honoratiorenpartei, eine Unabhängigkeitserklärung." gewesen.
Was stand drin im Manifest, in der Kampfansage? - Das Programm gliedert sich in eine Einleitung und vier Kapitel. Schaut man auf die Überschriften und Thesen, die von "Eigentumsordnung", "Vermögensbildung" und "betrieblicher Mitbestimmung" handeln, bekommt man rasch eine Vorstellung, dass es der damaligen FDP um Großes ging.
Die liberale Reform des Kapitalismus erstrebt die Aufhebung der Ungleichgewichte des Vorteils und der Ballung wirtschaftlicher Macht, die aus der Akkumulation von Geld und Besitz und der Konzentration des Eigentums an den Produktionsmitteln in wenigen Händen folgen.
Von der FDP ganz zu schweigen, selbst in der heutigen SPD wären solche Formulierungen nicht mehrheitsfähig. Die damalige FDP aber war in den Nachkriegsjahren und nach der allmählichen Demokratisierung und Liberalisierung des Staates der Meinung, dass die nächste Stufe der bürgerlichen Revolution nunmehr in die Betriebe getragen werden müsse. Die beiden traditionellen liberalen Grundsätze:
1. "Der Staat sind wir alle".
2. "Der Staat darf nicht alles".
Sollte nun auf diese Arbeitswelt übertragen werden. Weiter heißt es:
Der Betrieb sind wir alle.
Industrieuntertanen müssen in Industriebürger verwandelt werden.
Das sollte geschehen durch einen Ausbau der Mitbestimmungsrechte für die Arbeitnehmer, den die sozial-liberale Koalition von Brandt und Scheel dann tatsächlich vollzog. Außerdem wurden Möglichkeiten geschaffenen, Vermögen zu bilden, Eigentum auch an Grund und Boden zu erwerben. Die FDP schlug zu diesem Zweck eine "Reform der Bodenordnung" vor, was mit dem heutigen Ohr gehört, ein wenig an die DDR-Bodenreform erinnert. Tatsächlich ging es mehr um Bewertungs- und Baugenehmigungsverfahren. Ziemlich bemerkenswert war die Forderung nach einer saftigen Erbschaftssteuer in Höhe von bis zu siebzig Prozent. Einer Tabelle im Anhang der Freiburger Thesen kann man allerdings auch entnehmen, dass Erbschaften bis zu einer Millionen D-Mark in der Regel unbesteuert bleiben sollten.
Bemerkenswert ist auch das Kapitel über die Umweltpolitik, wo es erstaunlich früh und erstaunlich modern heißt:
Zu den unabdingbaren Menschenrechten gehört das Recht auf eine Umwelt in bestem Zustand...
..., deshalb muss Umweltpolitik den gleichen Rang erhalten wie soziale Sicherung, Bildungspolitik oder Landesverteidigung.
Das war eine geradezu radikale, mit konkreten Forderungen unterlegte These, formuliert fast zehn Jahre vor Gründung der "Grünen Partei".
Beschlossen wurden die FDP-Thesen Ende Oktober 1971 in Freiburg. Auf dem Parteitag trat der Hauptautor Werner Maihofer auf, sprachen Walter Scheel und Hans-Dietrich Genscher. Eine flammende Rede hielt Karl-Herrmann Flach, der sozialpolitische Vordenker der Partei. Flach, bis dahin bei der "Frankfurter Rundschau" beschäftigt, wechselte in Freiburg auf den neu geschaffene Posten eines "Generalsekretärs" der FDP. Das Freiburger Programm entstand, als sich die FDP, damals nicht anders als heute, in einer schweren Krise befand. Bei der Wahl 1969 hatte sie es mit 5,8 Prozent knapp in den Bundestag und dann in die erste sozial-liberale Koalition geschafft. Die Thesen sollten sie öffnen, sie wandeln von der Partei der Kleingewerbetreibenden, Bauern und Weltkriegsoffiziere zu einer akademisch geprägten, sozialen Rechtsstaatspartei. Tatsächlich wurden dann Wahlen gewonnen und neue Anhänger. Manche von ihnen, wie Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger repräsentieren noch heute einen linksliberalen Flügel der FDP. Der allerdings bald schon von den Marktliberalen um Otto Graf Lambsdorff wieder beschnitten wurde. So interessant sich die Freiburger Thesen gerade mit Blick auf die aktuelle Kapitalismusskepsis lesen, so rasch waren sie vom Zeitgeist überrollt. Mit den "Kieler Thesen" orientierte sich die FDP bereits 1979 wieder zurück zum traditionellen Wirtschaftsliberalismus. Drei Jahre später folgte der Koalitionswechsel zur Union. Freiburg, das war in der FDP also ein kurzer Traum. Und doch begründet der damalige liberale Aufbruch bis heute Zukunftspläne, die über die gegenwärtige Koalition einmal hinausführen könnten.
Karl-Hermann Flach/Werner Maihofer/Walter Scheel:
Die Freiburger Thesen der Liberalen. Rowohlt Taschenbuch-Verlag (Erstausgabe 1972, derzeit nur antiquarisch erhältlich)