Wenn in der Arktis die Meereis-Fläche schrumpft, reflektiert sie nicht mehr so viel einfallendes Sonnenlicht. Zum Vorschein kommt stattdessen dunkler Ozean, der die Strahlung schluckt und sich erwärmt. Deshalb steigen die Temperaturen im Nordpolargebiet so stark. Dieser Rückkopplungseffekt, wie er genannt wird, ist wohlbekannt. Doch offenbar gibt es noch einen weiteren, der selbst in der stockfinsteren Polarnacht wirkt. Und zwar im unsichtbaren, infraroten Spektralbereich, in dem die Erdoberfläche Wärme abstrahlt.
Der Umweltwissenschaftler und -ingenieur Daniel Feldman und einige andere Forscher berichten darüber jetzt im Fachmagazin PNAS. Feldman forscht am staatlichen Lawrence-Berkeley-Nationallabor in den USA ...
"Unsere Studie beschreibt einen neuen, bisher unbekannten Strahlungsmechanismus. Er könnte die Erwärmung in polaren und Hochgebirgsregionen noch zusätzlich verstärken."
Es geht um Wärmestrahlung mit Wellenlängen zwischen 15 und einhundert Mikrometern. Das ist das sogenannte Ferne Infrarot. Jeder Körper mit einer Temperatur über dem absoluten Nullpunkt gibt gewisse Mengen davon ab. Auch die Erde.
Die Polargebiete sind dabei so etwas wie offene Scheunentore für Infrarot-Licht. Die Luft ist dort äußerst trocken. Es fehlt an Wasserdampf, dem wichtigsten natürlichen Treibhausgas, das Infrarotstrahlung blockiert. Deshalb kann die Wärme an den Polen so gut wie ungehindert ins All entweichen. Doch das geschieht immer weniger, je stärker das Meereis zurückgeht, wie Feldman und seine Kollegen jetzt schreiben:
"In der Arktis und Antarktis herrscht jedes Jahr für drei Monate Polarnacht. Eis reflektiert dann natürlich kein Sonnenlicht, denn es gibt ja keins. Dieser Effekt fällt also aus. Im Fernen Infrarot aber gibt die Erdoberfläche weiter Wärme ab. Und da haben wir jetzt ermittelt, dass offener Ozean viel weniger abstrahlt als Meereis."
"Die Studie könnte bahnbrechend sein"
Es bleibt also mehr Wärme im System, wenn die Meereisbedeckung abnimmt. Diesen bisher übersehenen Prozess simulierten die Forscher in einem Klimamodell - und waren erstaunt über das Ergebnis:
"Im Klimamodell kam es zu ziemlich dramatischen Veränderungen durch den Fernen-Infrarot-Effekt. Die Meereis-Fläche ging um zusätzliche zehn Prozent zurück, die Lufttemperatur stieg zusätzlich um zwei Grad Celsius. Und das innerhalb von nur 20 Jahren."
Der Effekt könnte also ziemlich groß sein. Deswegen sei die neue Studie auch so wichtig, sagt Martin Mlynczak, Atmosphärenforscher und Spezialist für Fernes Infrarot bei der US-Raumfahrtbehörde NASA:
"Diese Studie hat das Zeug dazu, bahnbrechend zu sein. Wie die Modellierungen zeigen, könnte die infrarote Ausstrahlung in der Arktis stark abnehmen - und auch in anderen kalten Weltregionen. Das kann extrem wichtig für das Klima dort sein und verändert unser Bild von der Energiebilanz unseres Planeten."
Obwohl die Erde rund die Hälfte ihrer Wärmeenergie als fernes Infrarot-Licht emittiert, gibt es bis heute keine Routinemessungen in diesem Spektralbereich. Nur Kalkulationen. Das liegt daran, dass die Photonen im fernen Infrarot so energiearm sind. Und messtechnisch äußerst schwer zu erfassen.
Die NASA plant aber inzwischen eine Satellitenmission mit neuen Spektrometern, die genau das hinbekommen sollen. Der Start ist für 2023 geplant ...
"Das wären die ersten präzisen Satellitenmessungen speziell im fernen Infrarot. Wir wollen alles dafür tun, dass die Mission vielleicht noch früher kommt. Wir bräuchten sie so schnell wie möglich."
Erst wenn solche Messungen vorliegen, können die Forscher sagen, wie stark der neuentdeckte zusätzliche Erwärmungseffekt in den Polarregionen tatsächlich ist.