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Ingrid von Kruse: "Begegnungen"
"Das Fotografieren ist nicht so wichtig wie das Gespräch"

Helmut Schmidt war bockig, Henry Kissinger nahm sich Zeit, Herta Müller hatte Angst und wollte absagen. Die Fotografin Ingrid von Kruse reflektiert literarisch ihre Begegnungen mit Zeitgenossen und sagt: "Die Kamera ist letztlich eine störende Geschichte."

Von Michael Köhler | 26.02.2020
Ingrid von Kruse steht an eine Wand gelehnt. Ein Mann hockt auf dem Boden und besfstigt drei ihrer Fotografien an der Wand. Aufgenommen im April 2015 während der Vorbereitungen einer Ausstellung in Lissabon.
Die Fotografin Ingrid von Kruse: "Ich bin so ausgeliefert wie der Andere" (imago / Global Images / Gustavo Good )
Ihre Frauenporträts sind unnachahmlich. Ariane Mnouchkine, Gründerin des Théâtre du Soleil, konzentriert im Profil. Oder Anita Lasker-Walfisch. Wir sehen die Holocaust-Überlebende und Cellistin als nachdenkliche Dame, den Kopf geneigt. Ähnlich Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller. Auch ihr Blick geht von oben rechts nach links unten, nicht frontal in die Linse der Kamera. Beinahe wäre es nicht zu dem Treffen gekommen.
"Schließlich kam sie, vollkommen aufgelöst und aufgeregt. 'Ich hätte das absagen sollen, schon unterwegs habe ich mir gesagt: Warum hast du zugesagt?' Und sie hat es auch erklärt, dass sie diese Scheinwerfer während dieser Verhöre in Rumänien, dass sie in diesem Moment dachte: Jetzt liefere ich mich wieder aus. Das muss sie wohl so beängstigt haben."
Fotografisch-literarische Plastiken
Ingrid von Kruse arbeitet im besten Sinne altmodisch. Mit Großbildkamera, Rollfilm, ohne Kunstlicht, Blitzanlage und Zubehör, nur in Schwarz/Weiß. Die Porträtierten wirken daher gelassen, angstfrei. In ihren Porträts entdeckt man Züge, die völlig überraschend sind. Es sind kontemplative, entbergende Porträts: fotografisch-literarische Plastiken. Sie schälen einen inneren Geist hervor, sind nie exzentrisch: Der Fotografin geht es um die Balance zwischen Distanz und Nähe.
"Das ist das Anstrengendste, ohne dass ich das merke, die Situation auszutarieren, dass der andere sich einerseits öffnet, sich aber nicht - wie soll ich sagen - durchleuchtet fühlt."
Der ungeduldige ehemalige amerikanische Außenminister Henry Kissinger wusste, dass von Kruse die "Zeit"-Herausgeberin Marion Dönhoff und Bundeskanzler Helmut Schmidt mehrfach getroffen hatte. Mit beiden war Kissinger befreundet.
"'Wieviel Zeit hat Helmut Ihnen denn gegeben?' Da hab' ich gesagt: 'Helmut habe ich dreimal getroffen. Er hat mir doch etwas mehr Zeit gegeben. Aber wir haben uns immer gestritten', hab' ich gesagt. 'Worüber haben Sie gestritten?' 'Natürlich nicht über Politik.' 'Über was denn sonst?' 'Über Kunst natürlich! Immer hatte er Recht', sage ich. 'Immer hatte er Recht, nur einmal hat er tatsächlich - vielleicht aus Versehen gesagt: 'Das stimmt!'' Da sagt der Kissinger: 'Das hat er nie zu mir gesagt!'"
Die Fotografin und Autorin Ingrid von Kruse mit ihrem Band "Begegnungen. Porträts und ihre Geschichten"
Die Fotografin und Autorin Ingrid von Kruse in ihrem Hamburger Wohnzimmer (Deutschlandradio/ Michael Köhler)
Am Anfang das Interesse
Die Anekdote zeigt nicht nur das gewinnende Wesen der Fotografin und Menschenfängerin. Es zeigt auch ihr Konzept. Am Anfang steht das Interesse an Werk und Person, dann die Lektüre, es folgt ein handgeschriebener, langer Brief, dann der Weg zum Wohn- oder Wirkungsort der Porträtierten und die Begegnung, schließlich die niedergeschriebene Erinnerung.
"Eigentlich ist die Vorarbeit und die Begegnung auf literarischem Wege oder auf anderen Wegen ist für mich das Wichtigste. Ohne diese Frage der Fotografie wüsste ich nicht, weshalb ich mich ihnen nähern sollte. Ich brauche eben dieses Instrument, was eigentlich nur 'ne Krücke ist, um zu sagen: Ich hab' das und das vor. Wären Sie bereit, dass es zu einer Begegnung kommt? Alles andere ist für mich viel wichtiger. Alles andere. Wirklich. Auch das Fotografieren ist nicht so wichtig wie das Gespräch."
Die Porträtierten merken rasch, dass sich ihre Besucherin gründlich vorbereitet hat und Fragen stellt, die nur aus der intensiven Beschäftigung mit dem Werk hervorgehen können. Wenige handgeschriebene Briefe sind in dem Band "Begegnungen. Portraits und ihre Geschichten" erstmals abgedruckt.
So jener an die Komponistin Sofia Gubaidulina: "Verehrte Sofia Gubaidulina, wie sie in ihrer 'Lebensbilanz' bekennen, fühlen Sie sich von ständiger Eile getrieben, die Ihre Kraft unter dem Druck des bevorstehenden 85. Geburtstags am 18. Oktober und dem damit verbundenen anstrengenden Programm in besonderem Maße fordert. Ihre ganze Konzentration, jede kostbare Minute, gilt der Arbeit am großen Oratorium über 'Liebe und Hass', das in Tallin zur Uraufführung und später in Dresden zur Erstaufführung kommen soll – eine Art Vermächtnis, ein verzweifelter Ruf an die Welt, endlich Frieden zu schließen."
Verbindliches Sprechen und Schreiben
Dem Leser begegnet zuweilen ein ungewohnt hoher Ton, der aber nie übertrieben pathetisch wirkt. Es ist einfach nur ein sehr verbindliches Sprechen und Schreiben, wie es im Zeitalter der Kurznachrichten selten geworden ist. Und dann sagt Ingrid von Kruse etwas Überraschendes:
"Ich scheine in der Beziehung glaubwürdig zu sein, weil ich bei so einem Gespräch auch nicht von einem Punkt zum anderen springe, sondern zuhören will und auch wirklich was erfahren. Die Kamera ist eigentlich für mich letzten Endes eine störende Geschichte."
Ingrid von Kruse kann sich hinter ihrer Großbildkamera nicht verstecken. Sie setzt sich den Porträtierten nah gegenüber. Das erlaubt gleichberechtige Verhältnisse auf beiden Seiten, erklärt sie: "Ich bin so ausgeliefert wie der Andere." Zu den kürzesten Begegnungen gehört das Treffen mit dem französischen Begründer der strukturalen Anthropologie Claude Lévi-Strauss.
Ingrid von Kruse schreibt: "Am 22.Juni 1991 erwartetet mich Claude Lévi-Strauss um 16.30 in seiner Wohnung in Paris in der Rue des Maronniers. 'Genau fünfundzwanzig Minuten' waren abgemacht. Für diese fünfundzwanzig Minuten hatte ich mich tagelang mit seinem schwierigen, hochwissenschaftlichen Werk beschäftigt. Ich sehe mich noch in Paris in den Cafés lesen, hoffnungslos bemüht, in seinen Schriften den strukturalen Erkenntnissen auf den Grund zu kommen in 'La Voie des Masques'; vor allem aber in der 'Anthropologie Structurale', jenem Werk, das 1959 seinen Ruhm begründete, in dem er das geheimnisvolle Universum der Verwandtschaftssysteme erklärt. (…) 'Fünfter Stock, links vom Aufzug!', tönt es durch die Sprechanlage. Ein schlanker, großer Herr mit scharfem Profil, nicht übermäßig gesprächig, dennoch nicht unfreundlich, bittet mich in die kunstvollgeordnete, im Oval angelegte Bibliothek. Der erste Hinweis in unerbittlich höflichem Ton lässt keine Widerrede zu: 'Vingt-cinq minutes Madame!'"
Schweigsam sitzt Claude Lévi-Strauss da, wie ein Adler, lauernd und still, mit tiefen Furchen im Gesicht.
"Ich hab' ihn nicht lachen sehen. Ich weiß, gar nicht, ob er das konnte. Dieses Gesicht ist einfach fast eine Statue."
Kulturgeschichtlich wirkungsvolle Menschen
Ingrid von Kruse hat keine exzentrischen Zeitgenossen, sondern kulturgeschichtlich wirkungsvolle Menschen getroffen. Dazu zählen etwa ihre Porträts der russischen Schriftsteller Andrej Bitow, Viktor Jerofejew oder Ludmilla Stefanowna Petruschewskaja: kurz nach dem Fall der Mauer.
Die Begegnungen fanden meist unter widrigen Bedingungen statt: "Ich muss mich einstellen, nicht die. Ich muss mich einstellen."
Das Fotobuch reflektiert literarisch die Begegnungen der Autorin und ermöglicht auch dem Leser Begegnungen mit schöpferischen Menschen. So führen wir nicht nur lesend ein Gespräch mit ihnen, sondern geraten in einen konzeptuellen Dialog aus Brief, Foto, Erinnerung, Mündlichkeit und Schriftlichkeit. In dem Maße, wie die Fotos literarisch sind, sind die Texte fotografisch.
Nur einmal ist eine Begegnung missglückt. Das war Mitte der Achtzigerjahre. Der Kunstliedsänger Dietrich Fischer-Dieskau wollte ihr diktieren, wie er aufgenommen werden möchte. Das musste schiefgehen.
Auch davon berichtet Ingrid von Kruse: "Ich wollt's einfach mal erzählen, wie sich so eine Figur selbst wie so 'ne Statue einrichtet, ja, und dann rausgekriegt hat: Von oben bin ich am besten! Weil er dann den Hundeblick nach oben richten muss, dann hat er aufgerissene Augen. Jedenfalls, wie verfangen solche Menschen, die da auf der Bühne oft stehen, in ihrer Vorstellung ihres Bildes sind, restlos verfangen, gefangen."
Ingrid von Kruse: "Begegnungen. Porträts und ihre Geschichten"
Mit zahlreichen Abbildungen
Osburg Verlag, Hamburg. 360 Seiten, 25 Euro.