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Inkarnation des soldatischen Mannes

Nur zwei Jahre nach Ende des Ersten Weltkrieges erschien Ernst Jüngers "In Stahlgewittern". Jetzt sind die dem Werk zugrunde liegenden Kriegstagebücher bei Klett-Kotta erschienen - sie zeichnen ein weniger heroisches Bild von Jünger als sein Welterfolg.

Von Volker Ullrich | 11.10.2010
    Anfang August 1914 meldete sich der 19-jährige Gymnasiast Ernst Jünger aus Rehburg bei Hannover, wie damals viele Bürgersöhne, freiwillig zum Kriegsdienst. Nach dem "Notabitur" und einer dreimonatigen Grundausbildung wurde er Ende Dezember 1914 an die Westfront kommandiert. In ein Notizbuch, das er in seiner Rocktasche mit sich trug, notierte er:

    Nachmittags, Empfang von Patronen und eiserner Ration. Untersuchung auf Geschlechtskrankheiten. Als wir antraten, nahmen einige Mütter Abschied, was doch etwas trübe stimmte. 6.44 Abfahrt. Wir bekamen Stroh in die Wagen. Furchtbar gedrängte Pennerei in und unter den Bänken.
    Im Laufe des Krieges schrieb Jünger fünfzehn Kladden voll. In ihnen hielt er fast täglich fest, was er erlebte. Die Aufzeichnungen dienten als Grundlage für sein Erinnerungsbuch "In Stahlgewittern", das zuerst 1920 im Selbstverlag erschien und seitdem vom Autor in zahlreichen Fassungen neu bearbeitet wurde. Die Kriegstagebücher, die im Deutschen Literaturarchiv in Marbach verwahrt werden, wurden zwar von Jünger-Biografen verschiedentlich benutzt, aber bislang noch nicht publiziert. Jetzt hat sie der Heidelberger Germanist Helmuth Kiesel in einer vorzüglich editierten und kommentierten Ausgabe herausgebracht – zweifellos ein verdienstvolles Unternehmen. Denn im Unterschied zu den "Stahlgewittern" sind die Tagebücher nicht bearbeitet, sondern zeigen das Kriegserlebnis Jüngers gewissermaßen im Rohzustand, noch unverfälscht durch spätere Eindrücke und Erfahrungen. Als Jünger Anfang Januar 1915 bei seinem Regiment in der Champagne eintraf, war die Front längst im Stellungskrieg erstarrt. Von der Kanalküste bis zur Schweizer Grenze zog sich ein tief gestaffeltes System aus Schützengräben und Drahtverhauen. Schon in den ersten Tagen erlebt der Neuankömmling heftiges Artilleriefeuer, das zahlreiche Opfer fordert.

    Der Anblick der von den Granaten Zerrissenen hat mich vollkommen kalt gelassen, ebenso die ganze Knallerei, trotzdem ich einige Male die Kugeln sehr nahe habe singen hören.
    Bereits aus diesen Zeilen spricht eine Haltung unterkühlter Distanz, die sich durch das gesamte Tagebuch zieht. Jünger panzert sich mit Gefühlskälte, um sich von den grauenvollen Erlebnissen nicht überwältigen zu lassen. Die Beschreibungen der Toten auf dem Schlachtfeld sind von geradezu aufreizender Sachlichkeit:

    Nicht weit von dieser Stelle sah man aus einem Trümmerhaufen einen Rumpf herausragen, dem Kopf und Hals bis auf die Schultern weggerissen waren. Die weißen Knorpel ragten aus rötlich-schwarzem Fleische, aber der Anblick schien mir gar nicht so unangenehm.
    Jünger beobachtet die verstümmelten Leichen mit demselben kalten mikroskopischen Blick, mit dem er in den Gefechtspausen Käfer sammelt und präpariert – über 140 Exemplare verzeichnet das "Käferbuch", das der Edition beigefügt ist. Die Haltung scheinbarer Ungerührtheit im Angesicht unermesslicher Leiden macht das Besondere, aber auch das besonders Verstörende der Tagebücher aus. Bisweilen treibt Jünger sie bis ins Frivol-Monströse, wenn er etwa unter dem Datum des 17. Oktober 1915 notiert:

    Heut Nachmittag fand ich in der Nähe der Latrine zwei noch zusammenhängende Finger- und Mittelhandknochen. Ich hob sie auf und hatte den geschmackvollen Plan, sie zu einer Zigarrenspitze umarbeiten zu lassen. Jedoch es klebte noch grünlich weißes verwestes Fleisch zwischen den Gelenken, deshalb stand ich von meinem Vorhaben ab.
    Jünger ist nicht aus patriotischem Überschwung ins Feld gezogen, sondern, wie er an einer Stelle bemerkt, "um Abenteuer zu erleben". Er sucht die Bewährung im Kampf, "die wilde Schönheit der Gefahr", wie es in einem Gedicht heißt, das er seiner Mutter widmete. Wann immer Freiwillige für besonders waghalsige Patrouillengänge gesucht werden, ist der Draufgänger zur Stelle. Die Extremerfahrung an der Grenze des Todes bedeutet für ihn den ultimativen Kick. Nur gelegentlich beschleichen ihn Zweifel über den Sinn seines Tuns.

    Was soll dies Morden und immer wieder morden? Ich fürchte, es wird zu viel vernichtet und es bleiben zu wenig. Der Krieg hat in mir doch die Sehnsucht nach den Segnungen des Friedens geweckt.
    So schreibt er Anfang Dezember 1915. Doch gleich darauf ruft er sich zur Ordnung und verwirft das gerade Notierte als "Wachstubenphilosophie". Das Schreiben des Tagebuchs hat für Jünger eine existenzielle Bedeutung. Es gibt ihm einen Halt inmitten des Infernos. Die Sprache ist schmucklos, häufig durchsetzt vom schnoddrigen Landserjargon. Von "Scheißfraß" und "Etappenschweinen" ist die Rede, "Immer feste druff" heißt es, wenn zum Angriff geblasen wird, und "Bärendusel" hat gehabt, wer unverletzt zurückkommt. Berichtet wird auch von den Ruhepausen zwischen den Kämpfen, von Exkursionen ins Hinterland, auf denen der Leutnant Jünger die Annehmlichkeiten des Etappenlebens genießt. Doch im Mittelpunkt steht das Geschehen an der Front. Mit schonungslosem Realismus schildert er das ungeheure Ausmaß der Zerstörung, das der Krieg anrichtet, die Verwandlung der Schlachtfelder in Mondlandschaften, das Pulverisieren ganzer Städte und Dörfer. Und es wird deutlich, was der Krieg aus den Menschen macht. Alkoholexzesse sind an der Tagesordnung; im Grabenkampf werden keine Gefangenen mehr gemacht. Hier herrscht die reine Mordlust.

    In der Hitze des Augenblicks sah und hörte ich nichts mehr als die Kerls, die ich vernichten wollte.
    Jünger wurde siebenmal verwundet, doch er überlebte immer wieder wie durch ein Wunder. Die letzte und schwerste Verwundung erlitt der hochdekorierte Leutnant Ende August 1918 durch einen Lungenschuss. Noch im Lazarett begann er sich Gedanken darüber zu machen, wie er seine Notizen zu einem Buch umwandeln könnte. Darin, so schrieb er, wolle er "keine Heldenkollektion" bieten, sondern den Krieg so beschreiben, wie er ihn erlebt hatte. Tatsächlich aber hat Jünger für das Buchprojekt seine Aufzeichnungen nicht nur sprachlich poliert, sondern auch inhaltlich retuschiert, indem er sein Kriegserlebnis heroisch überformte. Im Vorwort von "In Stahlgewittern" erklärte er:

    Eines bleibt uns: die ehrenvolle Erinnerung an euch, an die herrlichste Armee, die je die Waffen trug und an den gewaltigsten Kampf, der je gefochten wurde.
    Der Stoßtruppführer stilisierte sich selbst zum Archetyp des Kriegers, zur Inkarnation des soldatischen Mannes. Er ließ alles weg, was seine Vorbildfunktion hätte beeinträchtigen können – seine Konflikte mit den Vorgesetzten, seine Disziplinlosigkeiten, seine gelegentlichen pazifistischen Anwandlungen. So konnte "In Stahlgewittern" zum Kultbuch der deutschnationalen und völkischen Rechten in der Weimarer Republik werden. Im Januar 1926 notierte der junge Joseph Goebbels:

    Ein glänzendes, großes Buch. Grauenerregend in seiner realistischen Größe. Schwung, nationale Leidenschaft, Elan, das deutsche Kriegsbuch.

    Volker Ullrich über das von Helmuth Kiesel bei Klett-Cotta herausgegebene Kriegstagebuch 1914-1918 von Ernst Jünger. Die Ausgabe umfasst 654 Seiten; ihr Preis beträgt 32 Euro und 95 Cent, ISBN: 978 -3-60893-843-2.