Freitag, 29. März 2024

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Inklusion an Hochschulen
Studieren mit Handicap

Von Alexander Budde | 22.09.2014
    Mit dem ersten Kaffee des Tages genießen Studierende die Ruhe vor dem Sturm. Noch ist der Campus kaum belebt. Doch Kathrin Nöckel hat keine Muße für das Spätsommeridyll. Der prüfende Blick der angehenden Jura-Studentin wandert über die kryptisch anmutende Beschilderung am Eingang des Hörsaalgebäudes.
    "Im Internet sind ja schon die Vorlesungen und da steht zum Beispiel diese 1507. Und da hat man sich immer gefragt: Was ist das?"
    "Genau. Es geht immer um das Gebäude - das steht meistens davor. Was es für Hörsäle und Seminarräume gibt, das steht auch meistens auf Deinem Stundenplan. Da steht dann 1507-201. Und das gucken wir uns jetzt mal an! "
    Schlägt Marc Zimmermann vor. Abläufe, Strukturen, Örtlichkeiten: Der Biologiestudent kennt sich hier aus. Im Auftrag der zentralen Studienberatung lotst Zimmermann die 26-Jährige zum Fahrstuhl. Dies hier ist bereits die fünfte "Schnuppertour" unter seiner Führung. Zimmermann schafft Orientierung für Studierende mit Handicap.
    Möglichst selbstständig ihren eigenen Weg gehen
    Über Umwege fand Kathrin Nöckel zur Alma Mater. Das chronische Nierenleiden ist der 26-Jährigen auf den ersten Blick kaum anzumerken. Zwei erfolgreiche Berufsjahre und der gute Rat einer Freundin haben sie ermutigt, sich auf das besonders lernintensive Jura-Studium einzulassen. Besondere Rücksicht fordert sie nicht ein, sie will ihren eigenen Weg gehen, möglichst selbständig sein:
    "Das ist für mich ganz wichtig, weil im Leben schon einiges passiert ist. Ich hatte eine nicht so schöne Schulzeit, sagen wir es mal so. Und es wurde auch nicht immer an mich geglaubt. Ich hätte das nie gedacht, dass ich noch einmal studieren gehe oder freiwillig irgendo noch einmal lerne. Und deswegen will ich das hier auch beweisen."
    Als Asthmatikerin müsse sie im Gedränge ein wenig auf sich Acht geben, sagt Nöckel. Vergleichbar kurz gewachsen ist sie überdies um gute Sicht bemüht:
    "Ich sitze lieber vorne, aufgrund meiner Größe. Dann habe ich auch mehr Chancen, was mitzbekommen. Hier wäre das zum Beispiel wieder kein Problem!"
    Steil ragen die Reihen im großen Hörsaal auf. Marc Zimmermann weist auf Tafel, Beamer, Leinwand:
    "Es ist halt sowieso immer sinnvoller, sich nach unten zu setzen. Weil viele Professoren, obwohl sie ein Mikro haben, sind halt leise. Es ist ja auch so, dass inzwischen schon Podcasts angeboten werden, das heißt, die Vorlesung wird mitgeschnitten und man kann es sich im Nachhinein noch einmal anhören."
    "Ich kann nicht so schnell mitschreiben. Deshalb finde ich es gut, dass man die Möglichkeit hat, zuhause noch einmal aufzuarbeiten."
    Inklusion spielt bislang eine untergeordnete Rolle
    Vorlesungstexte und Folien im Internet - Marc Zimmermann sagt: Allen Beteiligten sei die Technik inzwischen eine große Stütze. Und er rät: Wer mehr Pausen und mehr Zeit für eine geforderte Studienleistung braucht, etwa weil seine Motorik eingeschränkt ist, der sollte sich um den so genannten Nachteilsausgleich bemühen:
    "Es ist gut, dass Du den Antrag schon gefunden hast. Den würde ich auch auf jeden Fall stellen. Und dann ist es so, dass Du vermutlich mehr Zeit kriegen wirst als andere."
    Inklusion an Schulen ist bundesweit ein Riesenthema - an den Hochschulen spielt es immer noch eine untergeordnete Rolle. Auch in Niedersachsen, doch der gute Wille sei da, versichert Zimmermann - auch wenn andere Länder mit der Integration weiter seien. Fachräte, Studienkoordinatoren, eine Liste mit Kontakten und Anlaufstellen, die Rat geben, verspricht er Kathrin Nöckel zum Abschied. Seine Uni sieht er auf gutem Wege, auch wenn er sich gelegentlich selbst empört, über Hindernisse, die ihm vorher nicht einmal aufgefallen waren. Erst neulich führte er einen angehenden Kommilitonen ein:
    "Der saß im Rollstuhl. Und wir haben 20 Minuten lang die Behindertentoilette gesucht. Und wir mussten da zigmal nachfragen.Und im Nachhinein haben wir herausgefunden, dass das Behindertenklo nicht mal gesondert ausgeschildert ist. Bis man das gefunden hat und gerade wenn man neu ist an der Uni, das finde ich schon sehr traurig, muss ich sagen."