Mittwoch, 24. April 2024

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Inklusion und Arbeitsmarkt
Kritik an "parallelen Sonderweltstrukturen"

Behinderten-Werkstätten oder Förderschulen würden ausgrenzend wirken, sagte Karl-Wilhelm Rößler vom Kölner Kompetenzzentrum Selbstbestimmt Leben im Dlf. Diese Institutionen verhinderten, dass Menschen mit Handicap Stellen im allgemeinen Arbeitsmarkt finden.

Carl-Wilhelm Rößler im Gespräch mit Gastmoderator Gilbert Krüger | 20.07.2018
    side by side In den Caritas Wendelstein Werkstätten arbeiten Menschen mit Behinderung in der Produktion der Designkollektion side by side. Raubling Bayern Deutschland Copyright: argumx/xThomasxEinberger Side by Side in the Caritas Wendelstein Workshops Work People with Disability in the Production the Side by Side Raubling Bavaria Germany Copyright argumx xThomasxEinberger
    Noch immer eine Seltenheit: Menschen mit Handicap arbeiten Seite an Seite mit Nichtbehinderten (imago stock&people)
    Gilbert Krüger: Als nächstes begrüße ich Karl-Wilhelm Rößler vom Kompetenzzentrum Selbstbestimmt Leben in Köln. Als Jurist setzt er sich für die Belange von Menschen mit Behinderung ein. Herzlich Willkommen, Herr Rößler!
    Wilhelm Rößler: Ja, vielen Dank, dass ich hier sein darf!
    Krüger: Schön, dass Sie da sind! Sagen Sie mal, welche Bedeutung hat Arbeit für Menschen mit Behinderung?
    Rößler: Ja, die Bedeutung ist eigentlich erst mal teilweise parallel mit der, wie es auch bei Menschen ohne Behinderung ist. Es geht natürlich um Sicherung des Lebensunterhalts, und das möglichst aus eigener Kraft, das ist auch für das persönliche Selbstwertgefühl sehr wichtig. Arbeit gibt - das gilt auch für Menschen ohne Behinderung, wird aber dann erst mal bewusster von behinderten Menschen wahrgenommen -, auch Struktur, dass man eben dann auch den Tag dadurch sinnvoll gestalten kann. Das gibt Leuten dann auch Begegnung mit anderen Menschen, auch mit anderen nicht behinderten Menschen.
    Und es bedeutet auch, dass man sich selber einbringen kann, dass man seine Potenziale, seine Fähigkeiten, seine Ressourcen einbringen kann und dann auch an diesen Prozessen im Arbeitsleben teilnehmen kann, sehen kann, dass man etwas bewirkt, und das Gefühl, eben auch wertgeschätzt und gebraucht zu werden. Das ist ein sehr wichtiger Aspekt neben dem bloßen Brötchenerwerb, der sicherlich auch eine wichtige Rolle spielt. Weil natürlich über diesen angemessenen Lohn, wenn man den bekommt, kann man sich natürlich dann auch Wünsche erfüllen. Das gilt ja für anderen Menschen auch.
    Aber im Prinzip muss man sagen, die Gewichtung bei Menschen mit Behinderung ist noch mal eine etwas andere. Weil Menschen mit Behinderung, die wenig verdienen, trotzdem sehr wichtig ist, eben eine Erwerbstätigkeit nachzugehen. Das beobachtet man sehr häufig, dass Menschen mit sehr schweren Beeinträchtigungen diese Mühe auf sich nehmen und trotzdem auf den allgemeinen Arbeitsmarkt streben, anstatt beispielsweise in einer Werkstatt den Tag zu verbringen.
    Werkstätten sind eine Sackgasse
    Krüger: Jetzt haben Sie die Werkstatt für Menschen mit Behinderung als eine Sonderwelt in der Arbeitswelt erwähnt. Was glauben Sie denn, welche Bedeutung Werkstätten haben oder haben sollten?
    Rößler: Also in Zeiten der UN-Behindertenrechtskonvention, die ja von einem inklusiven Gesellschaftsmodell ausgeht, stehen natürlich diese ganz klassischen ausgrenzenden Institutionen wie Werkstätten sehr stark in der Kritik und müssen sich natürlich hinsichtlich ihrer Sinnhaftigkeit hinterfragen lassen. Ich glaube, es wäre jetzt noch zu früh, zu sagen, die Werkstätten müssen geschlossen werden. Aber langfristig glaube ich, dass wir alles tun müssen, um möglichst viele Menschen mit Behinderung dabei zu unterstützen, in den allgemeinen Arbeitsmarkt zurückzukehren oder zu gelangen, weil das oft auch deren Wunsch ist.
    Wir haben nach wie vor sehr hohe Zugangszahlen zum System der Werkstätten, also viele Menschen, die dort reinstreben. Bei Menschen mit starken kognitiven Einschränkungen beispielsweise geht das fast schon enbloc nach der Schule in die Werkstatt, und das sind teilweise regelrechte Automatismen. Genauso ist es auch so, dass wir es in der Beratung immer wieder beobachten, dass Menschen, die zwar eine Behinderung haben, aber auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eine Stelle suchen, dann teilweise durch das Jobcenter nach mehrjähriger Arbeitssuche doch nahegelegt bekommen, sich mal eine Werkstatt anzuschauen. Es sähe doch so aus, als wenn das nicht mehr klappen würde. Das ist natürlich ein fatales Signal. Es gibt diesen Menschen das Gefühl, gewissermaßen aufgegeben zu werden.
    Das Problem ist ja, dass es bislang nur sehr wenig Möglichkeiten gibt, wieder von der Werkstatt oder vom System der Werkstatt in den allgemeinen Arbeitsmarkt zurückzukehren. Da gibt es jetzt im Zusammenhang mit dem Bundesteilhabegesetz das neue Budget für Arbeit. Das fängt jetzt gerade so an. Da muss man natürlich auch ein bisschen … oder da muss man fair sein und auch erst mal schauen, wie das funktioniert und muss dem auch eine gewisse Zeit geben, dass dieses System sich am Markt etabliert. Da geht es also um Lohnkostenzuschüsse für Menschen, die aus der Werkstatt herausgehen und einen Arbeitsplatz auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt finden.
    Aber generell ist das immer noch zu sehr als Sackgasse ausgeprägt, und das muss an dem Punkt auch kritisch hinterfragt werden. Die Politik schätzt Werkstätten nach wie vor sehr, weil sie eben auch davon ausgeht, dass man dort gute Rentenansprüche erwerben könne. Aber das darf nicht mehr der alleinige Maßstab zur Rechtfertigung sein. Ich glaube, dass wir wirklich viel mehr den Fokus darauf legen müssen, dass sich Menschen mit Behinderung ihren Wünschen gemäß auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einbringen können.
    Das wichtigste ist Begegnung
    Krüger: Hätten Sie eine kreative Idee, wie das gelingen würde?
    Rößler: Wie gesagt, durch das Budget für Arbeit. Dem würde ich jetzt gerne eine gewisse Zeit und Chance geben, sich auch zu bewähren als System. Das ist allerdings auch noch nicht ganz ausgereift. Ich glaube auch, dass Außenarbeitsplätze, wo Menschen mit Behinderung noch in der Werkstatt offiziell angesiedelt, aber eben räumlich in einem Betrieb tätig sind, viel stärker dazu genutzt werden müssen, um eben dann den Absprung auch in den allgemeinen Arbeitsmarkt, in den Betrieb zu schaffen. Da würde ich drauf hoffen.
    Es gibt da sicherlich keine Ad-hoc-Lösung, um das jetzt ganz schnell übers Knie zu brechen und zu lösen. Aber ich glaube, es gibt da schon durchaus Ansätze, die jetzt auch deutlich intensiviert werden müssen. Bisher haben wir eine Wechselquote aus der Werkstatt in den allgemeinen Arbeitsmarkt, soweit mir bekannt, von circa einem Prozent. Also das ist sehr, sehr wenig, und das muss deutlich gesteigert werden.
    Krüger: Was glauben Sie, welche Rolle dabei Schule spielt?
    Rößler: Wenn wir erst mal von der Abgrenzung von der Förderschule und der gemeinsamen Unterrichtung ausgehen, dann ist natürlich eine Förderschule genauso wie eine Werkstatt auch eine sehr ausgrenzende Einrichtung. Und das muss teilweise auch kritisch hinterfragt werden. Denn ich glaube, das Wichtigste, um Menschen mit und ohne Behinderung zusammenzubringen, ist Begegnung. Und wenn möglichst viele Lebensabschnitte schon in solchen parallelen Sonderweltstrukturen ablaufen, dann werden sehr viele Gelegenheiten vertan, um sich zu begegnen, einander auszutauschen, voneinander zu lernen und auch zu lernen, den anderen auch wechselseitig wertzuschätzen, ob mit oder ohne Behinderung. Und damit würde eben auch das Zusammenkommen und damit letztendlich auch die Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt, aber auch in die Gesellschaft selber womöglich erschwert.
    Krüger: Vielen Dank an Karl-Wilhelm Rößler vom Kompetenzzentrum Selbstbestimmt Leben in Köln!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.