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Inklusionsprojekt für Autisten
Hochintelligent und dennoch arbeitslos

Für Autisten ist es schwierig, Gesten und Emotionen zu deuten. Wegen mangelnder Teamfähigkeit finden viele deshalb keinen Job, obwohl sie vor allem im IT-Bereich Spezialisten sind. Das will ein Inklusionsprojekt der Hochschulen für angewandte Wissenschaften Kempten und Ravensburg-Wengarten jetzt ändern.

Von Thomas Wagner | 23.10.2019
Ein autistischer junger Mann, fotografiert von hinten, er hält sich die Ohren zu.
Autisten sind oft hervorragende IT-Spezialisten (picture alliance / Markus Scholz)
Selina Bobeck hat an der Hochschule Ravensburg-Weingarten gerade ihr Masterstudium "Mediendesign und digitale Gestaltung" beendet – mit einer ungewöhnlichen Abschlussarbeit:
"Das Thema ist ein bisschen schwierig zu verstehen: User-Experience-Design für Anwendung mit künstlicher Intelligenz, und dann habe ich ein Unterthema gehabt: Emotionserkennung im Autismus-Spektrum."
Das bedeutet: Eine spezielle Software analysiert bei Videokonferenzen Gestik und Mimik der Gesprächsteilnehmer und fasst die Bedeutung dieser non-verbalen Kommunikation in kurzen Textbausteinen zusammen.
"Da das eben für manche schwierig ist, Mimik und Gestik zu erkennen. Das heißt: Da werden die Emotionen des Gesprächspartners in einer Videokonferenz automatisch erkannt und dargestellt."
Fähigkeiten von Autisten werden auf dem Arbeitsmarkt händeringend gesucht
So können Menschen mit autistischen Zügen auch die non-verbale Kommunikationsebene bei solchen Konferenzen verstehen - eine Grundvoraussetzung, um einen entsprechenden Job in einem Unternehmen auszufüllen. Dabei ist die Software, die Emotionen richtig deuten kann, ein Baustein eines Projektes, das die beiden Hochschulen Ravensburg-Weingarten und Kempten gemeinsam auf den Weg gebracht haben.
Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass Menschen aus dem autistischen Spektrum zum Teil exzellente Studienabschlüsse machen und oft hervorragende IT-Experten sind, aber sich kaum in Teams integrieren lassen, obwohl man sie mit ihrer Expertise eigentlich dringend bräuchte, so die beiden Professoren Thomas Spägele, Rektor der Hochschule Ravensburg-Weingarten und Wolfgang Hauk, Rektor der Hochschule Kempten:
"Autisten haben ein eigenes Spektrum für die Gesellschaft mit ihren ganz großen positiven Eigenschaften der Mustererkennung, der Datenanalyse. Diese Fähigkeiten werden händeringend von der Industrie gesucht."

"Ich glaube, dass unsere Gesellschaft im Moment von Themen getrieben wird, Digitalisierung, alle die Schlagworte, die damit zusammenhängen, und diese Themen gerade von autistischen Menschen sehr gut bearbeitet werden können – ob das Big Data ist, Mustererkennung und sonstige Dinge. Also die sind in diesen Themen richtig drin."
Da kommt einem allerdings schnell das Bild von dem autistisch wirkenden Nerd in den Sinn, der selten seine Wohnung verlässt, inmitten von leeren Pizza-Kartons und halb angetrunkenen Cola-Flaschen vor seinem Rechner an IT-Problemen tüftelt und nun plötzlich in den regulären Ablauf eines Unternehmens integriert werden soll .
"Autisten und Nerds – da muss man vielleicht auch ein bisschen vorsichtig sein."
Grafik: Geometrische Formen wirbeln um depressive Frau herum 
Autisten sind in Menschengruppen oft gestresst, weil sie die Mimik des Gegenübers nicht lesen können (imago stock&people)
80 Prozent der Autisten schaffen es nicht, einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt
Warnt der Informatik-Professor Sebastian Meuser von der Hochschule Ravensburg-Weingarten vor Vorurteilen. Fakt sei jedoch:
"Autisten kommen natürlich gerade aus solchen Gründen, weil sie sich mit der sozialen Interaktion ein wenig schwer tun, mit Computern besonders gut klar. Aber dann muss man sie für das Arbeitsleben auch gerade in diesem Bereich besonders unterstützen, weil: Die meisten Autisten, 80 Prozent, schaffen es eben nicht an den ersten Arbeitsmarkt. Und in diesem IT-Bereich, wo sie besonders begabt sind, wollen wir sie dann auch unterstützen."
Beispielsweise mit der Emotions-Software, aber auch mit anderen Bausteinen, die Autisten den Weg in ein reguläres Arbeitsverhältnis ebnen, und die nicht nur aus IT-Lösungen bestehen. Vielmehr sind an der Erarbeitung solcher Bausteine in den kommenden zwei Jahren nahezu aller Fachbereiche beteiligt, betont der Weingartner Hochschulrektor Thomas Spägele:
"Job-Choaches" für einen leichteren Berufseinstieg
"Gerade in unserem Fall war jetzt die Psychologie an unserem Standort eine große Stärke. Die soziale Arbeit, die Gesundheit, da war die Expertise in Kempten da. Und da hat sich nun ein großes interdisziplinäres Team gefunden."
Das in Zukunft weitere Möglichkeiten ausloten soll, um Autisten in reguläre Jobs zu bringen. Beispiel: Die Erprobung so genannter "Job-Coaches."
"Wir wissen jetzt schon, dass es eigentlich eines Job-Coaches bedarf, der diese Menschen begleitet. Und derzeit gibt es solche Testversuche bei SAP zum Beispiel, Menschen zu inkludieren aus dem autistischen Spektrum"
Erklärt die Professorin Barbara Niersbach, Projektleiterin an der der Hochschule Ravensburg-Weingarten. Diese "Job-Coaches" sollen Autisten auf ihrem Arbeitsalltag begleiten, sie zum Beispiel damit vertraut machen, wie emotionale Regungen eines Gegenübers am Arbeitsplatz zu deuten sind, wo der bei Autisten häufig zu beobachtende Übereifer auch mal kontraproduktiv werden kann.
Viele weitere Hilfestellungen sind für Problemlagen angedacht, die Autisten alleine nicht bewältigen können. All dies ist auf eine Projektdauer von zunächst zwei Jahren angelegt – Verlängerung nicht ausgeschlossen, wenn es tatsächlich gelingen sollte, mit den zu entwickelnden Maßnahmen Autisten besser als bisher in feste Jobs zu integrieren.