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"Innerhalb der Gruppe bist du alles"

Nur 10.000 der elf Millionen Senegalesen haben eine Krankenversicherung und damit eine Chance auf eine medizinische Versorgung bei Cholera-, Malariainfektionen oder den so häufigen Durchfallerkrankungen. Doch in den Vorstädten von Dakar hat die Organisation ENDA nun eine Gesundheitskassen für die Slumbewohner eingerichtet.

Von Axel Denecke |
    "Das hier ist ein etwas schwieriges Viertel. Allein die Häuser. Dieses Viertel befindet sich in einer Senke. In jeder Regenzeit gibt es hier Überschwemmungen. Das ist die Art spontaner Behausungen, die die Leute hier auf den Feldern errichtet haben während der Dürre. Der Staat hat sie nicht genutzt, also haben sie sich einfach niedergelassen, ohne jegliche Infrastruktur."

    Babacar Mbaye arbeitet in einer Organisation, die den Aufbau von Kleinkrankenkassen in den Armenvierteln Dakars unterstützt. Er kennt sich aus in Guediawaye, einer der ausufernden Vorstädte von Dakar, die sich zwischen Stadtautobahn und Küstenstreifen ausbreiten.

    Vier Millionen Menschen sollen es mittlerweile sein, die die Halbinsel um die Hauptstadt des Senegal bewohnen. Auf dem Boden vor einem Haus sitzt eine Gruppe älterer Männer beim Kartenspiel. Kinder vergnügen sich mit einer alten Fahrradfelge.

    "Das Bildungsniveau der Bevölkerung ist hier sehr niedrig, die meisten haben keinen Beruf und arbeiten im informellen Bereich."

    Im sogenannten informellen Sektor tätig zu sein bedeutet, Sonnenbrillen, Besen oder Telefonkarten auf der Straße zu verkaufen und davon leben zu müssen - so wie es Tausende in Dakar tun.

    Die Dürre Ende der 80er Jahre trieb viele Senegalesen vom Land in die Stadt. Auch als die jährliche Regenzeit in den 90er Jahren wieder einsetzte blieben die Menschen dort. Und es kommen immer mehr dazu - nicht nur durch Zuwanderung sondern auch weil die Bevölkerung so rasant wächst. Heute ist die Hälfte der Einwohner des Senegal jünger als 20 Jahre und sucht Arbeit und Auskommen.

    Regelmäßige gesundheitliche Versorgung ist für die meisten Senegalesen nur ein Traum. Die wenigsten sind in der staatlichen Krankenkasse. Die Mitgliedschaft können sie sich gar nicht leisten. Und eine kostenlose Gesundheitsversorgung gibt es im Senegal auch für Mittellose nicht.

    "Die Armut führt dazu, dass sich viele Leute im Fall einer Krankheit in einer sehr schwierigen Lage befinden, weil sie kein Geld haben. Man muss Mittel finden, Menschen mit sehr geringen Einkommen vor Krankheit zu schützen. Sie frisst sonst alles auf."

    Wir sind zu Gast bei Absa Fall, einer selbstbewussten 60-Jährigen in farbenfrohem Gewand, die zusammen mit anderen Frauen eine kleine lokale Krankenkasse gegründet hat. Ihr Haus ist wie die Nachbarhäuser etwas verschachtelt gebaut. Immer wenn gerade Geld zur Hand war, wurde es um ein Zimmer erweitert. Es lässt sich nur schwer schätzen, wie viele Menschen dieses Haus bewohnen.

    "Die meisten Häuser sind Eigentum der Bewohner. Aber es wohnen hier auch viele Leute vom Land die drei oder vier Monate in Dakar sind, um eine Arbeit zu suchen, die also ein Zimmer zur Miete brauchen. In so einem Haus hier gibt es vielleicht zehn Zimmer, und vier oder fünf davon sind von Mietern belegt."

    In dem kleinen Innenhof stehen Behälter mit Kräutern. Durch den Vorhang einer Türöffnung dringen Stimmen und der Ton eines laufenden Fernsehers. Etwas entfernt flechten sich zwei Mädchen auf der Veranda geduldig Zöpfe. Frau Fall spricht kaum französisch sondern das im Senegal weit verbreitete Wolof.

    "Ein Afrikaner kann nicht außerhalb der Gruppe leben. Die Mädchen dort drüben beispielsweise, gehören nicht zu meiner Familie, aber da ihre Mutter zurzeit krank ist, ist es selbstverständlich, dass sie den ganzen Tag hier verbringen und auch mit uns essen. Die Gruppe nimmt sich immer aller Sorgen und Probleme des Einzelnen an. Innerhalb der Gruppe bist du alles, außerhalb nichts."

    Frau Absa Fall kam einst nach Dakar, als ihr Mann hier eine Arbeit fand. Wie in der senegalesischen Familien üblich, war sie für Kindererziehung und den Haushalt zuständig. Großes Gelächter auf die Frage, wie viele Kinder sie erzogen hat.

    "Man sagt, eine senegalesische Frau hat mindestens fünf Kinder. Man sieht auch Frauen mit elf oder zwölf Kindern. Bis vor Kurzem haben Krankheiten viele Kinder getötet. Also haben die Leute gerechnet. Von zwölf Kindern sterben vielleicht fünf oder sieben an Krankheiten, bleiben mir noch fünf. Wenn ich viele Kinder habe, habe ich auch viele Arbeiter, die im Familienbetrieb mitarbeiten."

    Die kleine Krankenkasse, die Frau Absa Fall zusammen mit anderen Frauen gegründet hat, steht allen im Viertel offen. In Guediawaye haben die insgesamt sieben Krankenkassen bereits über 800 Mitglieder, von denen jedes Mitglied einen geringen Monatsbeitrag zahlt und dafür die Arztrechnungen aus dem Topf der Kasse bezahlen kann.

    "Da dies ein armes Viertel ist, hat man sich gefragt: Wie viel kann der Ärmste monatlich bezahlen? Das sind 200 CFA Francs. Also zahlen alle 200 Francs monatlich."

    200 CFA Francs sind umgerechnet nicht mehr als drei Eurocent. Doch bei 200 CFA Francs pro Familienmitglied kommen für eine Familie schnell 1000 Francs pro Monat für die Krankenkasse zusammen. Dabei verdient ein Verkäufer im informellen Sektor vielleicht 15.000 Francs monatlich, ein Taxifahrer das Doppelte.

    Jedes Mitglied der Krankenkasse erhält eine kleine Versichertenkarte, die auch bei der Ambulanz des Krankenhauses anerkannt wird. Der Patient muss nicht selbst bezahlen, das Krankenhaus rechnet mit der Kasse ab. Gleichzeitig führt das Frauenkollektiv aber auch Veranstaltungen zur gesundheitlichen Aufklärung durch - in einem Land, in dem fast Jeder einen Talisman trägt um Unglück und Krankheit abzuwenden.

    "Die Afrikaner dachten immer, dass Krankheit nichts natürliches sei. Selbst bei der Malaria, von der jeder weiß, dass sie durch Mücken übertragen wird. Doch ein Afrikaner fragt sich: Warum hat die Mücke mich gestochen und nicht dich? Also wirkt für ihn immer eine übernatürliche Kraft."

    Die Frauen informieren über HIV und Aids, über Cholera und Tuberkulose - Krankheiten die mit einfachen Mitteln vermieden werden können. Männer sind zwar oft die Ernährer der Familien. Doch wenn es um Gesundheit und Erziehung zu Hause geht, haben die Frauen die Hosen an.

    "Die Frau ist die wahre Herrin des Hauses. Wenn der Mann arbeitet, dann kümmert sie sich um die Erziehung und die Gesundheit der Kinder. Sie fragt die Kinder abends, ob sie ihre Schulaufgaben gemacht haben und löscht das Licht, schließt die Tür ab. Sie ist die Hausherrin und das gilt auch meist, wenn der Mann da ist. Selbst wenn es einmal finanzielle Schwierigkeiten gibt, springt sie ein und kümmert sich um zusätzliches Einkommen."

    Stolz zeigt Frau Fall ein paar kleine Plastikbeutel, die vor ihr aufgereiht liegen. Sie enthalten Mais, Couscous oder Hirse. Die Frauen des Kollektivs kaufen das Getreide von den Bauern am Rande der Stadt, waschen und schälen es, packen es ab und verkaufen es dann. So kommen die Frauen des Viertels zu Absa Fall, kaufen Mais oder Couscous, und erfahren bei der Gelegenheit auch von der Krankenkasse. Einige sind daraufhin schon neue Mitglieder geworden.