Die Jury der Mülheimer Theatertage hatte es in diesem Jahr so schwer wie nie. Nicht nur, dass alle acht ausgewählten Stücke der Saison ihre Qualitäten hatten und keins die anderen weithin sichtbar überstrahlte. Das Auswahlgremium war zudem einem unübersehbaren Trend gefolgt: Auf den Bühnen landauf, landab zerfranst der Stück-Begriff. 30 mit schwarzen Buchstaben bedruckte Seiten, dramatische Figuren mit Konflikten, Dialogen und Handlungen - diese Form ist rückläufig. Auch in früheren Jahren war deshalb immer mal eine Jelineksche Text-Kaskade nach Mülheim eingeladen oder szenische Collagen von Stefanie Carp. Aber dieses Mal hatte das Auswahlgremium aus den 123 gesichteten Uraufführungen allein vier Stücke, also die Hälfte, in den Wettbewerb gebracht, die im strengen Sinne keine sind.
Feridun Zaimoglus und Günter Senkels "Schwarze Jungfrauen" besteht aus fünf Monologen, die auf Gesprächen mit tatsächlich existierenden Islamistinnen basieren. Elfriede Jelinek rückt "Ulrike Maria Stuart" als Stück gar nicht raus, Begründung:
" Der Text ist von der Autorin ausschließlich als Inszenierungsvorlage und nicht als Lesetext konzipiert. Das Stück kann daher nur in der Interpretation auf dem Theater zur Kenntnis genommen werden."
Also ist die Aufführung das Stück. Armin Petras und Thomas Lawinky haben die Stasi-Vergangenheit des Schauspielers Lawinky in eine Mischung aus dokumentarischer Retrospektion und sozialem Experiment verwandelt. Und in "Das Kapital" von Rimini Protokoll sprechen echte Menschen echte Sätze. Genau diese Produktion, die am wenigsten mit einem well made play gemein hat, erhielt gleich beide Auszeichnungen: den undotierten Publikums- und den mit 15.000 Euro dotierten Mülheimer Dramatikerpreis.
In "Das Kapital. Erster Band" berichten nicht Schauspieler, sondern Leute chronologisch von ihren Erfahrungen mit dem Marxschen "Kapital" bzw. mit dessen Ideen. Es treffen aufeinander:
Ein lettischer Filmregisseur, ein Wirtschaftshistoriker mit Marxschem Vollbart, ein Unternehmensberater, ein Elektroniker, ehemaliger Gewerkschaftssekretär und ehemaliger Spieler, ein blinder Call Center-Mitarbeiter, ein die Revolution suchender Azubi, eine Russisch-Übersetzerin und ein Anlagebetrüger, der sich später als dessen Biograf herausstellt. Thomas Oberender, Schauspielleiter bei den Salzburger Festspielen und Jury-Mitglied:
" Ich finde, dass es ein Theatertext ist, der wahrscheinlich in dieser Form von einem Autor nicht zu schreiben wäre, gleichzeitig ein Text, der für andere Künstler, andere Theater, eine wunderbare Vorlage zur Neuinterpretation gibt. [ ... ] Und dann bewegt mich der Blick auf die Geschichte und auch die Feier des Menschlichen, die dieser Abend ja doch bewirkt. Es ist so, dass wir so viele Einzelfälle, durch die hindurch sich das große Thema dieser Utopie, wie sie sich dann in verschiedenen Generationen und Ländern ausgedrückt hat als ein Umgang mit diesem Buch, wie die sich da darstellt, so ergreifend und menschlich berührend, dass ich nur dankbar bin für die Autoren dieser Produktion. "
Ein wichtiges Kriterium für ein Stück ist die Autorschaft. Diese dürfen Rimini Protokoll nach Meinung der Jury für sich beanspruchen, weil sie die authentischen Zeugnisse in hohem Maße komponiert und theatralisiert haben. Ein weiteres Kriterium ist die Ablösbarkeit von der konkreten Aufführung, also die Nachspielbarkeit. Regisseurin und Jury-Mitglied Friederike Heller sieht auch das gegeben:
" Klar leben die schon sehr von der Authentizität oder der starken Persönlichkeit der "Darsteller". Aber vielleicht wäre das gerade ein interessanter Riss durch diesen Authentizitäts-Kult, der da scheinbar gefeiert wird, der ja mit einem kleinen Fragezeichen selbst von den Riminis versehen wird, wenn sie nachher den Biographen von Jürgen Harksen als Jürgen Harksen auftreten lassen und dadurch selbst die Frage stellen, inwiefern man auch aufs Glatteis geführt wird mit so einer Schein-Authentizität. "
Diese wichtige und richtige Diskussion über den Charakter des Theaterstücks an sich verstellte etwas den Blick auf einen anderen Schwerpunkt dieser Mülheimer Theatertage: die Einmischung in gesellschaftliche Diskurse. Elfriede Jelinek, die die Auszeichnung für das beste Stück nur knapp "Rimini Protokoll" überlassen musste, rieb sich an dem, was von der RAF übrig bleibt. Petras/Lawinky untersuchten in "Mala Zementbaum" den Verrat anhand der Stasi, Lukas Bärfuss' etwas überfrachtetes Stück "Die Probe" wollte sich der Problematik von Vaterschaftstests widmen. Feridun Zaimoglu und Günter Senkel brachten den inhaltlich sicher heißesten Text mit: über junge muslimische Frauen in Deutschland, die zum Dschihad aufrufen. Und einer der beiden eingeladenen Theater-Debütanten, Dirk Laucke, schrieb mit viel Feingefühl das Drama dreier Unterschichten-Männer aus der ostdeutschen Provinz.
Die Entscheidung der Jury jedenfalls, nicht dieses oder eins der anderen konventionell konzipierten Stücke bei einem Wettbewerb namens "Stücke" auszuzeichnen, sondern Rimini Protokoll mit ihren höchst berührenden Assemblagen von persönlichen Zeugnissen - diese Entscheidung war mutig und programmatisch. Die Mülheimer Theatertage haben heute Nacht ihre Zukunftsversicherung abgeschlossen.
Feridun Zaimoglus und Günter Senkels "Schwarze Jungfrauen" besteht aus fünf Monologen, die auf Gesprächen mit tatsächlich existierenden Islamistinnen basieren. Elfriede Jelinek rückt "Ulrike Maria Stuart" als Stück gar nicht raus, Begründung:
" Der Text ist von der Autorin ausschließlich als Inszenierungsvorlage und nicht als Lesetext konzipiert. Das Stück kann daher nur in der Interpretation auf dem Theater zur Kenntnis genommen werden."
Also ist die Aufführung das Stück. Armin Petras und Thomas Lawinky haben die Stasi-Vergangenheit des Schauspielers Lawinky in eine Mischung aus dokumentarischer Retrospektion und sozialem Experiment verwandelt. Und in "Das Kapital" von Rimini Protokoll sprechen echte Menschen echte Sätze. Genau diese Produktion, die am wenigsten mit einem well made play gemein hat, erhielt gleich beide Auszeichnungen: den undotierten Publikums- und den mit 15.000 Euro dotierten Mülheimer Dramatikerpreis.
In "Das Kapital. Erster Band" berichten nicht Schauspieler, sondern Leute chronologisch von ihren Erfahrungen mit dem Marxschen "Kapital" bzw. mit dessen Ideen. Es treffen aufeinander:
Ein lettischer Filmregisseur, ein Wirtschaftshistoriker mit Marxschem Vollbart, ein Unternehmensberater, ein Elektroniker, ehemaliger Gewerkschaftssekretär und ehemaliger Spieler, ein blinder Call Center-Mitarbeiter, ein die Revolution suchender Azubi, eine Russisch-Übersetzerin und ein Anlagebetrüger, der sich später als dessen Biograf herausstellt. Thomas Oberender, Schauspielleiter bei den Salzburger Festspielen und Jury-Mitglied:
" Ich finde, dass es ein Theatertext ist, der wahrscheinlich in dieser Form von einem Autor nicht zu schreiben wäre, gleichzeitig ein Text, der für andere Künstler, andere Theater, eine wunderbare Vorlage zur Neuinterpretation gibt. [ ... ] Und dann bewegt mich der Blick auf die Geschichte und auch die Feier des Menschlichen, die dieser Abend ja doch bewirkt. Es ist so, dass wir so viele Einzelfälle, durch die hindurch sich das große Thema dieser Utopie, wie sie sich dann in verschiedenen Generationen und Ländern ausgedrückt hat als ein Umgang mit diesem Buch, wie die sich da darstellt, so ergreifend und menschlich berührend, dass ich nur dankbar bin für die Autoren dieser Produktion. "
Ein wichtiges Kriterium für ein Stück ist die Autorschaft. Diese dürfen Rimini Protokoll nach Meinung der Jury für sich beanspruchen, weil sie die authentischen Zeugnisse in hohem Maße komponiert und theatralisiert haben. Ein weiteres Kriterium ist die Ablösbarkeit von der konkreten Aufführung, also die Nachspielbarkeit. Regisseurin und Jury-Mitglied Friederike Heller sieht auch das gegeben:
" Klar leben die schon sehr von der Authentizität oder der starken Persönlichkeit der "Darsteller". Aber vielleicht wäre das gerade ein interessanter Riss durch diesen Authentizitäts-Kult, der da scheinbar gefeiert wird, der ja mit einem kleinen Fragezeichen selbst von den Riminis versehen wird, wenn sie nachher den Biographen von Jürgen Harksen als Jürgen Harksen auftreten lassen und dadurch selbst die Frage stellen, inwiefern man auch aufs Glatteis geführt wird mit so einer Schein-Authentizität. "
Diese wichtige und richtige Diskussion über den Charakter des Theaterstücks an sich verstellte etwas den Blick auf einen anderen Schwerpunkt dieser Mülheimer Theatertage: die Einmischung in gesellschaftliche Diskurse. Elfriede Jelinek, die die Auszeichnung für das beste Stück nur knapp "Rimini Protokoll" überlassen musste, rieb sich an dem, was von der RAF übrig bleibt. Petras/Lawinky untersuchten in "Mala Zementbaum" den Verrat anhand der Stasi, Lukas Bärfuss' etwas überfrachtetes Stück "Die Probe" wollte sich der Problematik von Vaterschaftstests widmen. Feridun Zaimoglu und Günter Senkel brachten den inhaltlich sicher heißesten Text mit: über junge muslimische Frauen in Deutschland, die zum Dschihad aufrufen. Und einer der beiden eingeladenen Theater-Debütanten, Dirk Laucke, schrieb mit viel Feingefühl das Drama dreier Unterschichten-Männer aus der ostdeutschen Provinz.
Die Entscheidung der Jury jedenfalls, nicht dieses oder eins der anderen konventionell konzipierten Stücke bei einem Wettbewerb namens "Stücke" auszuzeichnen, sondern Rimini Protokoll mit ihren höchst berührenden Assemblagen von persönlichen Zeugnissen - diese Entscheidung war mutig und programmatisch. Die Mülheimer Theatertage haben heute Nacht ihre Zukunftsversicherung abgeschlossen.