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Sabina Berman ist eine der anerkanntesten Dramatikerinnen und Autorinnen Mexikos. Ihr neuester Roman "Die Frau, die ins Innerste der Welt tauchte" schildert, wie eine alteingesessene Thunfischfabrik modernisiert wird, um sich unter völlig neuen Voraussetzungen auf dem Weltmarkt zu behaupten.

Von Margrit Klingler-Clavijo | 20.07.2011
    "Zuerst fiel mir die Geschichte ein. Das Schreiben war ganz schön anstrengend, da ich normalerweise für das Theater schreibe. Ich wollte auch jetzt wieder ein Theaterstück schreiben, doch da fiel mir auf, dass eine der Hauptfiguren das Meer ist, das offene Meer, das man mit dem Auge nicht völlig erfasst. Das gilt auch für die Dimension des Nichtmenschlichen auf dem Planeten. Als ich das symbolisch in ein Theaterstück einbringen wollte, schrieb ich sofort das Gegenteil von dem, worüber ich eigentlich in dem Roman schreiben wollte: die Beziehung zum Nichtmenschlichen. Wenn ich das aber auf die Menschen zugeschnitten machte, redete ich bereits in Symbolen. Ich wollte aber nicht in Symbolen reden, sondern ohne sie."

    Soweit Sabina Berman zur Entstehungsgeschichte ihres erfrischend unkonventionellen Romans. Der bringt unser anthropozentrisches Weltbild ins Wanken, zeigt, wie ein uralter Familienbetrieb, die Thunfischfabrik Consuelo, modernisiert wird, um sich unter völlig neuen Voraussetzungen auf dem Weltmarkt zu behaupten. Geschildert wird all dies aus der Perspektive von zwei wunderbaren Frauen, die zu ihren Eigenheiten stehen, der eleganten Tante Isabelle, die nach Jahren in den USA als Erbin der Thunfischfabrik Consuelo nach Mazatlán zurückkehrt und von Karen Nieto, einem Findelkind, das offenbar im Erbe mit inbegriffen ist. Gleich zu Beginn des Romans sitzt Karen Nieto am Meer und lernt, sich selbst anzunehmen und Ich zu sagen.

    Ein mageres Mädchen, in einem weiten, weißen T-Shirt, das im Wind flattert, mit angewinkelten Beinen, die Knie gegen die Brust. Ein Mädchen, das gegen Wind und
    Meer anflüstert:
    Ich.
    Ich.
    Da erhebt sich eine hohe Welle und bricht, und in dem Getöse weiß das Mädchen nicht mehr von sich, verschwindet für sich, ist nicht mehr. Wo ist dieses Ich geblieben?, dieses zerbrechliche Gebilde aus Worten hat sich verflüchtigt, und ein gewaltiges Nicht-Ich hat seinen Platz eingenommen: das Meer.


    Wie Albert Einstein, Charles Darwin und andere Genies ist Karen Nieto eine einseitig begabte Autistin. Sie hat ein hervorragendes Gedächtnis, ist eine Top-Zeichnerin, kann nicht lügen, nicht in Symbolen und Metaphern reden und hat großes Mitgefühl mit Tieren. Allerdings ist ihr Intelligenzquotient so niedrig, dass man sie in eine Schule für Geistig Minderbemittelte steckt, bis die energische Tante Isabelle einen Privatlehrer für sie besorgt, der sie ihren Begabungen entsprechend fördert.

    "Karen lebt außerhalb der Blase des Denkens. Von Geburt an werden wir darauf gedrillt, uns in die Blase des Denkens zu begeben. Nach der Grundschule denken wir bereits, so ist das Leben, es besteht daraus, immerzu an etwas anderes zu denken, als an das, was wir gerade vor Augen haben. Wir denken und denken und denken..., bringen Worte über Worte hervor, setzen uns in unserer Freizeit vor ein Gegenüber und reden, träumen nachts, dass wir denken, machen davon Bilder und bleiben aus diesem Grund in der Blase des Menschlichen stecken."

    Karen Nieto verkörpert im Roman das subversive Element, das die Einseitigkeit einer standardisierten Wissensvermittlung unterläuft, die auf die Schulung des Intellekts setzt, den Menschen für "die Krone der Schöpfung" hält und Tiere und Pflanzen in erster Linie unter Verwertungs- und Vermarktungsaspekten wahrnimmt. Besonders hart ins Gericht geht Sabina Berman mit dem französischen Philosophen René Descartes und seinem viel zitierten Satz "Ich denke, also bin ich."

    " Mir geht es in dem Roman darum, wie wir die Formel unseres Seins auf der Erde verändern können. Was Descartes vorschlägt, ist völlig verrückt. Und wir leben in diesem Wahn. Für ihn gibt es nur das Denken, den Zweifel. Nein, verflixt noch mal nein! Ich versichere Ihnen, wenn in einem Wald ein Baum umstürzt, weiß ich, dass er umgestürzt ist. Wir sind völlig selbstbezogen, leben in einer Art Panik vor dem Nicht-Menschlichen. Das haben wir uns nicht ausgesucht; wir wurden darauf gedrillt, und ich sage gedrillt, weil es praktisch auf ein faschistisches Training hinausläuft. Wir haben keine Wahl." "

    Im Roman wird dieses standardisierte Denken und Verhalten anhand von zwei Nordamerikanern karikiert: Professor Huntington, einer Koryphäe für Schlachthöfe und "humanes Töten" nebst Gould, einem gewieften Nutznießer der Globalisierung, der seine Millionen erwirtschaftete, indem er simples Spielzeug oder einfachen Schmuck in Billiglohnländern herstellen ließ und in den großen Städten den Industrienationen für teures Geld vermarktete.

    Dass Karen Nieto während ihres Zoologiestudiums mit Professor Huntington in Konflikt gerät, ist vorprogrammiert. Zum einen, weil sie der autoritäre Professor nach ihrem niedrigen Intelligenzquotienten beurteilt und ihre zeichnerische Begabung verkennt. Zum anderen, weil Karen sich nicht blenden lässt von seinen preisgekrönten Erfindungen, wie dieser Viehbetäubungspistole, die angeblich beim Töten den Stress der Tiere verringert. "Pietätvolles Töten" nennt Huntington das in einer Art orwellschen Umwidmung. Karen Nieto durchschaut Huntingtons Etikettenschwindel, der die Tierschützer beschwichtigen soll und verzichtet auf eine akademische Karriere unter Huntingtons Fittichen.

    Unterdessen versucht Tante Isabelle verzweifelt, die drohende Pleite von Thunfisch Consuelo abzuwenden. Nordamerikanische Umweltschützer hatten ein Einfuhrverbot von mexikanischem Thunfisch erwirkt, wodurch Tante Isabelle einen Großteil ihrer Stammkunden verlor. Eine Wende zeichnet sich erst nach dem Besuch von Mister Gould ab. Der hat über Samuel Huntington erfahren, dass Karen Nieto umweltverträgliche und stressfreie Fangmethoden für Thunfische entwickelt, und wittert das große Geschäft. Gould modernisiert den Familienbetrieb von Grund auf, erschließt erfolgreich neue Märkte, immerzu den Profit vor Augen. Karen Nieto dagegen geht es vor allem um das Wohlergehen von Mensch und Tier, um ein stressfreies Dasein, dass sie am ehesten beim Tauchen im Meer erlebt oder im Zusammensein mit ihrer Tante Isabelle, um die sie sich liebevoll und ohne viel Aufhebens in den letzten Tagen ihres Lebens kümmert. Die destruktive Logik der nach Erfolg und Anerkennung jagenden Standardmenschen entlarvt Sabina Berman, indem sie diese mit Momenten des schlichten Seins kontrastiert, Augenblicken der Fülle und des Staunens, die dem im Denken gefangenen Standardmenschen entgehen.

    Neugierige und eigenwillige Frauen, die völlig anders ticken, als von ihnen erwartet, findet man oft in Sabina Bermans Literatur. Außerdem hat sie sich in den Medien mit spezifischen Frauenproblemen auseinandergesetzt und in der Fernsehserie "Frauen an der Macht" (2000) gezeigt, welche Hindernisse und Hürden die zehn mächtigsten Frauen Mexikos zu überwinden hatten beim Griff nach der Macht.

    "Meine Frauenfiguren sind nicht erpicht auf das, worauf wir erpicht sein sollten: Zweierbeziehung, Familie, das Altbekannte. Wir Frauen sollten das System heftig kritisieren. Frauen glauben viel weniger an das System als Männer. Wir sehen, wie künstlich diese Systeme sind. Das System sagt Dinge, die nicht wahr sind. Es behauptet, wir lebten in Demokratien. Doch wo ist die Demokratie?"

    Sabina Berman: "Die Frau, die ins Innerste der Welt tauchte"
    Aus dem Spanischen von Angelica Ammar
    S. Fischer Verlag, Frankfurt, 2011