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Ins Stammbuch geschrieben...

Die Vorgänger der heutigen Poesiealben sind die Stammbücher. Das sind Hefte, die Studenten im 16. Jahrhundert führten und bei sich trugen. In die Stammbücher sollten die Professoren und Mentoren Widmungen und erbauliche Verse hineinschreiben. Die größte Sammlung dieser Stammbücher besitzt die Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar. Zurzeit wird die Sammlung in Tübingen erschlossen und katalogisiert.

Von Cajo Kutzbach |
    "Projekte" steht an der Zimmertür in Tübingens Universitätsbibliothek, hinter der Doktor Eva Raffel von der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar die weltweit größte Sammlung von 845 Stammbücher katalogisiert. Diese Stammbücher haben nichts mit dem Familienstammbuch der Standesämter zu tun, sondern mit dem Satz, dass man jemand "etwas ins Stammbuch schreibt".

    "Die Sitte, ein Stammbuch zu führen, begann im 16. Jahrhundert und zwar in Wittenberg, damals die berühmteste Universität im deutschsprachigen Raum. Das war natürlich den Reformatoren um Martin Luther und Philipp Melanchthon zu verdanken. Von Melanchthon kommt auch die Anregung, ein solches Buch zu führen. Das begann damit, dass Studenten sich in ein Druckwerk, dem mehrere leere Blätter vor-, beziehungsweise nachgebunden waren, zu einem ihrer akademischen Lehrer gingen, diese um einen Eintrag in Form von einer persönlichen Widmung baten, und so ihre akademischen Lehrer, von denen sie sich eine persönliche Aufmunterung, einen sehr persönlich gehaltenen Eintrag versprachen, aufsuchten und deren Unterschriften sammelten."

    Stammbücher enthielten vor allem Widmungen und persönlichen Erinnerungen. Als Studiennachweis dienen sie kaum, denn damals war es einfacher als heute, die Universität zu wechseln, denn überall lehrte man in Latein. Und Bürokratie gab es kaum.

    "Es waren schon auch so Einträge, die denjenigen etwas antreiben, etwas anspornen sollten. Daher eben dieser Spruch: 'Jemand etwas ins Stammbuch zu schreiben.'"

    Recht bald schmückten auch Bilder und Zeichnungen die Stammbücher. So dürfte die Abbildung eines Mädchens, dass zugleich mit drei Männer flirtet, auch Mahnung sein, das Studium nicht zugunsten von Wein, Weib und Gesang zu vernachlässigen. Man darf dabei nicht außer Acht lassen, dass diese Sitte von strengen Reformatoren ausging.

    "Es war eine genuin protestantische Sitte. Dem Sammler einer Ulmer Sammlung, die auch die Grundlage der Weimarer Sammlung bildet, war in vielen Sammlungsjahren im 18. Jahrhundert kein einziges katholisches Stammbuch in die Hände gelangt, so dass er, als das dann doch der Fall war, dies ganz erstaunt vermerkt, dass er zum ersten Mal das Stammbuch eines katholischen Studenten besaß. Natürlich wurden dann später auch Stammbücher geführt an katholischen Universitäten, wie Ingolstadt oder Mainz. Aber es blieb eine sehr protestantische und auch sehr deutsche Sitte, die in anderen Ländern gar nicht Schule machte."

    Auch bei den Bildungsreisen und Kavalierstouren im 18. Jahrhundert nahmen Adlige zwar ihre Stammbücher mit, aber außer im protestantischen Skandinavien gab es keine Nachahmer.

    "Wir haben auch in der Weimarer Sammlung zwei Bücher mit Einträgen von Philipp Melanchthon, von Martin Luther, Nikolaus Amsdorf, Johannes Bogenhagen, Paul Ewer, also alle Reformatoren haben sich verewigt. Kurz danach kam dann allerdings schon die Sitte auf, leere Blätter aneinander zu heften zu einem Buch - und dieses Buch mit sich zu führen. Und hier haben wir ein solches Buch, das in einem für Stammbuch sehr typischen Format ist, die sogenannte Queroktav."

    Das entsprich DIN-A-6-Querformat, ist also so groß wie eine Brieftasche, und passte damit in die Jackentaschen.

    "Wir haben hier eben ein Stammbuch, in dem man vor allen Dingen auch schöne Bilder, Genreszenen findet. Und das ist auch sehr interessant, denn solche Genreszenen haben wir in dieser Zeit sehr selten. Es sind Szenen auf dem Fechtboden, Wirtshausszenen, Szenen in Studentenbuden, also Bilder, die wir sonst praktisch nirgends haben."

    Dass Eva Raffel mit den Stammbüchern von Weimar nach Tübingen kam, hängt mit den Arbeitsmöglichkeiten zusammen, denn die erleichtern die Erschließung dieser Bücher.

    "In erster Linie geht es bei der Erschließung der Stammbücher auch darum die Einträger und Besitzer dieser Stammbücher zu ermitteln, was natürlich immer über die gedruckten Universitätsmatrikeln geht, die an einer Universitätsbibliothek natürlich vorhanden sind. In Weimar hat man - das war eine herzogliche Bibliothek - so etwas natürlich nicht gesammelt. Der zweite Grund ist, dass man hier in Tübingen ein Textverarbeitungsprogramm entwickelt hat, vor vielen, vielen Jahren schon - TUSTEP heißt das. Dieses Textprogramm bietet einerseits grade für geisteswissenschaftliche Arbeiten die entsprechende Oberfläche, um sehr viel Text in sehr verschiedenen Sprachen auf verschiedenen Ebenen mit verschiedenen Apparaten eingeben zu können."

    TUSTEP erstellt zudem selbständig Register und erlaubt, nicht nur nach Abschluss der Arbeiten rasch einen Katalog zu drucken, sondern die Datenbank kann auch im Internet veröffentlicht werden, so dass man dort Eva Raffels Arbeits-Fortschritte verfolgen kann. Bereits jetzt sind Texte und Bilder im Internet verfügbar, etwa Galileis Widmung, dessen Handschrift und Latein aber schwer zu entziffern ist. Ein Teil der Stammbücher stammt zudem aus Süddeutschland:

    "Der Grundstock der Weimarer Stammbuchsammlung wurde gelegt, als Goethe, die Oberaufsicht über die Bibliothek hatte. Und er veranlasste den Ankauf einer Ulmer Sammlung, die ein Ulmer Buchdrucker, Christian Ulrich Wagner, im 18. Jahrhundert gesammelt hatte. Er besaß 275 Stammbücher, hauptsächlich von Ulmer Bürgern, Ulmer Studenten, Ehemaligen, die in der Welt herum gereist waren."

    Viele von ihnen hatten in Tübingen studiert, so dass viele Einträge von Tübinger Professoren stammen, was heute die Nachforschungen erleichtert.

    "Hier haben wir dann eben den Eintrag des Tübinger Professors Wilhelm Schickard. Er hat hier einen Spruch aus Lucan: 'Laetius est, quod iens magnus vi constat honestum' - also: 'Das Gute ist umso erfreulicher, je mehr es kostet.'"

    Die Erschließung und Katalogisierung dieser Stammbücher wird von der Weinheimer Hector-Stiftung finanziert. Sie wird neben den Genrebildern, oder Kenntnissen über Papierherstellung und Buchdruck, vor allem die sozialen Netzwerke früherer Zeiten enthüllen. Stammbücher führten später nicht nur Studenten, sondern sogar ein fahrenden Druckergeselle und natürlich auch Frauen mit sich, die damals allerdings nicht so mobil waren.

    Auch den Stammbüchern blieb der kulturelle Verfall nicht erspart. Und ihre Nachfahren waren die Poesiealben kleiner Mädchen, in die sie vorgefertigte Bildchen einkleben und oft banale Sprüchlein schreiben.