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Insektenforschung
Aus Landbewohnern werden Stadtbewohner

Die Sommerhitze treibt viele Insektenarten immer weiter nach Norden. Aber um die Verbreitung der Insekten in Zeiten des Klimawandels genau zu untersuchen, fehlt es an Fachleuten. Deswegen ist die Forschung auf die Hilfe von freiwilligen Bürger-Wissenschaftlern angewiesen.

Von Michael Lange | 02.08.2019
Ein Mitarbeiter der Zoologischen Staatssammlung München nimmt mit einer Pinzette eine Schlupfwespe aus einer Sortierschale, in der sich die Probe einer Insektenfalle befindet.
Ohne freiwillige Bürger-Wissenschaftler wären Projekte wie das in Hamburg nicht umzusetzen (dpa / picture alliance / Tobias Hase)
Zwei große Windräder und reihenweise Sonnenkollektoren auf einer Anhöhe südlich von Hamburg. Viele Büsche und Wiesen. Von hier oben lässt sich fast die gesamte Stadt überblicken. Kaum zu glauben, dass an diesem Ort noch vor einigen Jahren Müll abgelagert wurde.
"Moin. Wir sind hier auf der gesicherten Deponie Georgswerder. Umgangssprachlich gerne auch als Energieberg bezeichnet."
Torsten Demuth vom Verein Neuntöter e.V. für Forschung und Vielfalt ist mehrfach in der Woche auf dem Hügel vor Hamburg unterwegs. Seine Aufgabe: Fallen kontrollieren, Insekten zählen und wiegen. Zuerst überprüft der Bürger-Wissenschaftler eine Malaise-Falle hinter einigen Büschen. Ihr Aufbau erinnert an ein kleines Zelt.
Das Wichtigste ist das Wiegen
"Das Material ist wie so ein Insektengitter. Ein Zelt mit offenen Seiten, wenn man so möchte. In der Mitte befindet sich eine senkrechte Trennwand, wo die Insekten, die die Falle queren, gegen geraten. Und sie können nicht mehr weiterfliegen.
Die Insekten müssen nach oben ausweichen und landen schließlich in einer Alkohollösung."
Jeden Montag leert Torsten Demuth die Falle: Ein paar Nachtfalter, Wildbienen und jede Menge kleine und große Fliegen schwimmen tot im Alkohol. Außerdem kontrolliert er die Bodenfallen, in die die nicht flugfähigen Krabbler hineinrutschen.
Nach dem Leeren der Fallen bringt Torsten Demuth die Insekten zu einem Container mit Arbeitsmaterial am Rande des Hügels.
"Meine Hauptaufgabe ist das Wiegen. Ich zähle nur wenige Tiergruppen, wie zum Beispiel Tagfalter. Aber die meisten Insektengruppen sind einfach viel zu artenreich, als dass ich sie hier vor Ort bestimmen könnte."
Der insektenfreundliche Norden
Das Insektensammeln am Stadtrand ist auf viele Jahre angelegt, am besten Jahrzehnte. Ohne freiwillige Bürger-Wissenschaftler wie Torsten Demuth wäre das Projekt nicht umzusetzen. Es gibt zu wenige professionelle Insektenfachleute. Und junge angestellte Wissenschaftler arbeiten stets mit Zeitverträgen für zwei oder drei Jahre.
Dem Insektenspezialisten Martin Kubiak vom Zentrum für Naturkunde der Universität Hamburg geht es jedoch um die langfristige Entwicklung der Insektenzahl in Zeiten des Klimawandels.
"Wir sehen das mitunter in einzelnen Tiergruppen, dass sie zum Beispiel ein früheres Aktivitätsmaximum zeigen oder eine Vervielfachung der Generationenzahl. Und das lässt sich nur ermitteln, indem man kontinuierlich über längere Zeiträume ganzheitlich erfasst."
Wärmeliebende Insekten zieht es zunehmend nach Norden. Während ihnen im Süden die Hitze zu schaffen macht, bleiben die Sommer in Norddeutschland und Skandinavien angenehmer und die Winter milder. Sehr insektenfreundlich.
Auf dem Weg nach Norden treffen einige von ihnen auf den Südhang des Energieberges vor Hamburg, erklärt Martin Kubiak:
"Es gibt hier einige wärmeliebende Arten, die wir in anderen Bereichen nicht vorfinden können. So gelten solche wärmebegünstigten Standorte als Trittsteinbiotope für Arten, die im Rahmen klimatischer Veränderungen ihre Verbreitung Richtung Norden verlagern. Die besiedeln zuallererst wärmebegünstigte Standorte. Das können solche offenen, nach Süden ausgerichteten Deponie-Standorte sein."
Stadt bietet bessere Lebensbedingungen
Die sechsbeinigen Zuwanderer lassen sich hier nieder, vermehren sich, und spätere Generationen fliegen weiter nach Norden, Richtung Stadt.
"Wenn wir davon ausgehen, dass der Klimawandel sich in Zukunft verstärken wird, dann hat das natürlich auch Konsequenzen für die hier vorkommenden Tierarten. Gerade Städte, die als Wärmeinseln gelten, sind prädestiniert, um entsprechende Veränderungen entdecken zu können."
Im landwirtschaftlich genutzten Umland werden die Lebensbedingungen für Insekten seit Jahrzehnten schlechter. Die Stadt mit Parks, Gärten und Brachflächen bietet ihnen mehr Nahrung und bessere Lebensbedingungen.
Weil der Mensch ihre Umwelt zerstört oder verändert hat, steht die Welt der Insekten unter Druck. Viele Arten gehen zu Grunde, aber manche finden anderswo neue Lebensräume. Sie passen sich an. Aus Landbewohnern werden Stadtbewohner. Die Evolution ist aktiv. Aber sie braucht ihre Zeit.