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Instagram-Künstlerin Signe Pierce
Technofeminismus von der Daten-Domina

Wie ein Barbie-Cyborg in den sozialen Medien: Für ihre Langzeitperformance als "Big Sister" färbte sich US-Künstlerin Signe Pierce die Haare wasserstoffblond und nahm mehr als zehn Kilo ab. Pierce will das Idealbild des weiblichen Sexobjekts bei Instagram unterwandern - indem sie es bedient.

Von Marie Kaiser | 21.05.2019
Signe Pierce trägt ein Händy auf dem Kopf mit ihrem Gesicht
"Ich hatte keinen Platz in der Kunstwelt": Instagram-Künstlerin Signe Pierce (Signe Pierce)
Signe Pierce: "I want to thank you so much. I want to go around and ask each one of you individually your name, phone number, mothers maiden name, credit card number."
Ihre Telefonnummer, den Mädchennamen der Mutter und die Kreditkartennummer – all das will Signe Pierce wissen von den Performance-Besuchern, die sich in der Galerie "Eigen&Art Lab" dicht an dicht drängen. Wie ein Barbie-Roboter bewegt sich Pierce durch den Raum im glänzenden Mini-Latex-Rock.
"Thank you so much. Thank you so much."
Big Sister – so nennt Signe Pierce dieses Performance-Wesen. "Big Sister" soll die feministische Antwort sein auf die aus ihrer Sicht von Männern dominierte Welt der Technologie in Silicon Valley: "Sie hat etwas Düsteres. Ich nenne sie manchmal eine Daten-Domina. Aber eigentlich ist sie keine böse Figur. Eher so etwas wie ein Whistleblower. Big Sister ist die Antwort auf Big Brother. Der Große Bruder beobachtet dich, heißt es. Aber weißt du was? Die Große Schwester schaut zurück!"
Die Karikatur eines Sexobjekts
Mit ihrem Alter Ego Big Sister will Signe Pierce uns vor Augen führen mit welcher Sorglosigkeit wir unsere intimsten Daten preisgeben. Dabei ist Signe Pierce selbst in sozialen Medien äußerst aktiv. Instagram ist der wichtigste Kanal für ihre Kunst. Dort hat sie über 68.000 Follower, denen sie sich auf Selfies als eine Art Influencerinnen-Cyborg präsentiert. Sehr blond, sehr schlank, immer perfekt gestylt und oft in knappen Kleidern in Pink. Wie die Karikatur eines Sexobjekts. Doch davon war die heute Dreißigjährige vor einigen Jahren noch weit entfernt.
"Ich hatte wirklich eine Art Offenbarung. Das war vor sechs, sieben Jahren. Ich war in meinem winzigen Schlafzimmer in New York City. Ich hatte keinen Platz in der Kunstwelt; wusste nicht, was aus mir werden soll. Damals war ich noch brünett, war frisch mit dem College fertig und habe mich nicht gut um mich selbst gekümmert. Dann hatte ich diese Offenbarung und wusste plötzlich, ich möchte eine Art Simulations-Schauspielerin werden. Also keine Performancekünstlerin! Ich möchte diese Rolle wirklich leben, eher wie eine Langzeitperformance."
Für ihre Langzeitperformance färbt sich Signe Pierce die Haare wasserstoffblond und nimmt über zehn Kilo ab. Sie formt ihren eigenen Körper wie ein Bildhauer eine Skulptur.
"Ich bin immer noch dabei, diese Skulptur in Form zu bringen. Ich habe wirklich hart daran gearbeitet, mental und körperlich. Wie eine gute Schauspielerin, die ihr Verhalten für eine bestimmte Rolle ändern muss. Ich bin immer noch dabei, mich in meine Rolle hineinzuversetzen und glaube, dass ich das noch viel weiter treiben kann."
Fleischgewordene Barbiepuppe
Auf ihren "Liquid Paintings", den fließenden Gemälden, wird Signe Pierce zu ihrer eigenen Muse. Auf Leinwände projiziert sie schillernd bunte Selfies, auf denen sie halbnackt zu sehen ist in erotischen Posen. Technofeminismus nennt Signe Pierce ihre Kunst, die klar an feministische Performance-Künstlerinnen wie Valie Export oder Fotokünstlerinnen wie Cindy Sherman anknüpft. Doch warum verbiegt sie sich, um wie eine fleischgewordene Barbiepuppe auszusehen? Ist das nicht das Gegenteil von Feminismus?
"Die Antwort ist: Ich spüre einfach, dass mir jede Menge Frauenfeindlichkeit entgegenschlägt. Und das meistens von Frauen selbst! Es sind vor allem Frauen, die mich nach meinem Äußeren beurteilen und mit mir reden, als wäre ich dumm! Ich denke dann immer: Mit eurer Reaktion beweist ihr, dass ich alles richtig mache. Dass gerade Frauen selbst den Frauenhass tief verinnerlicht haben. Das Patriarchat hat uns gelehrt, andere Frauen als Konkurrenz wahrzunehmen. Mir geht es nicht darum, dieses Spiel mitzuspielen, sondern darum, dass wir darüber nachdenken, warum das heute immer noch so ist – diese Frauenbilder zu unterwandern."
Dass gerade Frauen besonders aggressiv auf sie reagieren, hat Signe Pierce bei ihrer Arbeit am Kurzfilm "American Reflexxx" zu spüren bekommen. Wie einem Porno entstiegen, im ultrakurzen blauen Minikleid und mit einer verspiegelten Maske, läuft sie eine Strandpromenade in South Carolina entlang. Ein soziales Experiment – bei dem vor allem die Reaktion der anderen auf dieses hypersexuelle Wesen interessant ist.
Geschubst und mit Flaschen beworfen
Passant: "Can you do me in that later? Come on!"
Ein Mann fragt sie, ob er Sex mit ihr haben könne. Andere schreien: "Das ist ein Mann!"
Signe Pierce : "Sie wollten mir unbedingt die Maske vom Gesicht reißen. Und da hat es bei mir Klick gemacht. Ich habe mir gesagt: Spinnt ihr! Niemals! Ihr habt überhaupt kein Recht dazu!"
Frauen bewerfen sie mit Flaschen oder schubsen sie, solange, bis sie zu Boden fällt. Doch Signe Pierce steht immer wieder auf, lässt sich nicht vom Mob unterkriegen. Als sie das Video 2015 im Internet veröffentlicht, wird es ein großer viraler Erfolg und macht sie als Künstlerin international bekannt. Gefragt, wie sie sich denn nun selbst definiere, ob als Performancekünstlerin, Videokünstlerin oder Internetkünstlerin, antwortet Signe Pierce: als Reality Artist – als Realitätskünstlerin.
"Ein Reality Artist ist jemand, der seine Kunst aus dem alltäglichen Leben heraus schafft. Ich versuche, authentisch zu leben, indem ich auf diese künstliche Weise auftrete. Ich benutze mich selbst als eine Leinwand und als einen Spiegel, um zu reflektieren, was es überhaupt bedeutet, real zu sein im 21. Jahrhundert."