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Inszenierung im Geiste Shakespeares

Olivier Py legt mit seiner Inszenierung ein weites Assoziationsfeld frei: Man denkt an historische und gegenwärtige Unterdrückungsregime, an die Möglichkeiten individuellen Eingreifens Handelns, an psychische Deformationen und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen.

Von Christoph Schmitz | 25.04.2012
    Bei Ambroise Thomas' Shakespeare-Oper steht zwar "Hamlet" drauf, es ist aber kein Hamlet drin, könnte man meinen. Allenfalls ein Hamletchen, eine Schrumpfform, ein zahmes, braves Männlein, könnte man meinen. Daran ist aber zu erst einmal weniger der Komponist schuld, sondern seine beiden Librettisten Michel Carré und Jules Barbier. Sie mussten dem Publikum einen Prinzen servieren, der französischem Gemüt und Geschmack entsprach. Das Grüberlische, Zynische, Blutrünstige mochten die Franzosen nicht. In der Librettofassung für die Aufführung in Frankreich stirbt Hamlet am Ende nicht, sondern wird König von Dänemark, der alles zum Guten richtet.

    Während bei Shakespeare so vieles im Unklaren bleibt und der Zweifel alles beherrscht, weswegen Hamlet zum Inbild des modernen Menschen werden konnte, gibt das französische Libretto eindeutige Antworten. Carrés und Barbiers Dänenprinz leidet nicht unter Selbstzweifeln, sondern nur daran, dass er den Auftrag des Geistes seines verstorbenen Vaters, nämlich den Königsmörder zu töten, nicht erfüllt. Und Ophelia stilisieren die Franzosen zur Femme fragile, zum schwachen Geschlecht, das in Schönheit untergeht. Christine Schäfer verkörpert die Ophelia am Theater an der Wien als große Liebende, Suchende und extrem Verstörte mit nüchtern-klarem und subtil ausgestaltetem Sopran.

    Christine Schäfers Ophelia ist frei von Sentimentalitäten, wie sie das Libretto eigentlich insinuiert. So wie die Inszenierung von Olivier Py insgesamt alles daransetzt, diesem Opern-"Hamlet" wieder Shakespeares Geist einzuhauchen. Und das gelingt der Regie auf faszinierende Weise. Ophelia irrt am Ende im verschmutzen Brautkleid und lehmbeschmiert durch leere Hallen. Die Räume sehen aus wie Verliese. An Piranesis klaustrophobische Kerker erinnern sie, an gemauerte Labyrinthe, in die kein Tageslicht dringt, aus denen es kein Entkommen gibt. Der Mensch ist in ihnen allein, verlassen, verloren. Und so tritt auch Pys Hamlet auf: mit eingezogenem Kopf, verkrampften Schultern, permanent an den Fingernägeln kauend. Szenisch lebt hier Shakespeares universelle Obdachlosigkeit auf. Stéphane Degout spielt die Beklemmung mit jeder Faser seines Körpers, sein Bariton lotet die Grautöne der Melancholie Hamlets schmerzhaft aus.

    Ein breitest Spektrum expressiver Bühneneffekte bieten Regisseur Olivier Py und sein Team immer wieder auf. Ein wallender Plastikvorhang an der Rampe, hinter dem im Kellerlabyrinth die Festgelage zu sehen sind, an dem sich der Theaterrauch wie ölige Wolkenmassen verdichtet. Ein weites Assoziationsfeld legt diese Inszenierung frei. An historische und gegenwärtige Unterdrückungsregime denkt man, an die Möglichkeiten individuellen Eingreifens Handelns, an psychische Deformationen und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen. Und so wie hier die Szene Shakespeare rehabilitiert, so tut es auch der Dirigent der Premiere, Marc Minkowski, mit den Wiener Symphoniker in Bezug auf Ambroise Thomas' Komposition.

    Marc Minkowski arbeitet die schroffen Klänge und Rhythmen heraus. Er spitzt zu. Mal gleißend hell, mal finster mischt er die Klangfarben an. Er entdeckt einen vermeintlich harmlosen französischen Romantiker neu. Ambroise Thomas, der Neuerungen gegenüber immer eher skeptisch eingestellt war, wäre vielleicht überrascht, wenn er hörte, was unter Minkowskis Dirigat alles aus seinem "Hamlet" hervorsprudelt, auch an impressionistischen Vorahnungen.