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Integrale gegen Reifenquietschen

Technik. - Die Haftung von Rennreifen hat einen hohen Preis, denn die klebrige Gummimischung hält nicht lange. Für Normalreifen ist das nicht hinnehmbar, daher muss hier ein Kompromiss zwischen Haftung und Haltbarkeit gefunden werden. Jetzt ist am Forschungszentrum Jülich eine Theorie zur Gummireibung entwickelt worden, die den Entwicklungsingenieuren einiges an Zeit ersparen soll.

    Von Mathias Schulenburg

    Psychobiologisch gesehen verfügt die Formel 1 über fast alles, was dem gemeinen Manne so am Herzen liegt: Da ist das hornissen- wie hirschhafte Röhren der Motoren, was Wehrhaftigkeit und Ausdauer suggeriert; es gibt riesenhafte Spoiler als Geweih-Ersatz, also Zeichen großer Mannhaftigkeit, und die Fahrer sind unerhört schnell: So einer ist als erster an der Beute dran und damit weg. Nur eines fehlt, womit sich gerade jugendliche Autofahrer gerne Aufmerksamkeit verschaffen: Das Quietschen. Es quietscht nicht, oder doch nur selten, was daran liegt, dass Formel-1-Reifen notgedrungen ganz auf Haftung ausgelegt sind, sonst kann der Fahrer nicht gewinnen. Quietschen aber entsteht, wenn die Haftung nicht vollkommen ist.

    Gummi auf Asphalt, allgemeiner: auf reibenden Flächen - den Fachleuten stellt sich das Problem als theoretisch wie kommerziell hoch interessant dar, letztes gilt für die Hersteller von Formel-1- und anderen Reifen ebenso wie für die von Scheibenwischerblättern. Dr. Bo Persson hat sich als Wissenschaftler am Institut für Festkörperforschung des Forschungszentrums Jülich eingehend mit dem Problem befasst und eine neue Theorie entwickelt, die sich in der Praxis zu bewähren scheint:

    Die Rauhigkeit realer Oberflächen muss über viele Größenordnungen berücksichtigt werden, das beginnt bei Zentimetern und endet letztlich bei atomaren Größen. Und wenn man einen elastischen Körper an eine raue, harte Oberfläche presst, muss man herausfinden, wie weit der Körper diese verschieden großen Hohlräume ausfüllt. Das tut meine Theorie, die darüber hinaus auch das dynamische Gleiten eines Gummiblocks über eine solche Oberfläche beschreibt.

    In der Ableitung der Perssonschen Theorie geben sich die Integrale gleich seitenweise die Hand, am Ende aber stehen Formeln, mit denen Praktiker etwas anfangen können. Persson:

    Man muss ein paar experimentelle Daten über die Rauhigkeit der Oberfläche in die Formel stecken und die gemessenen viskoelastischen Daten des Gummis und kann dann zum Beispiel die Reibung als Funktion der Gleitgeschwindigkeit errechnen.

    Für Reifenhersteller sollte sich mithin einiges an Zeit bei der Entwicklung neuer Reifen sparen lassen. Die Viskoeleastizität eines Gummis ist eine Schlüsseleigenschaft; wenn man Gummikugel springen lässt, kann man sie sogar hören. Die erste, vollelastische Kugel ist das, was man erwartet. Persson:

    Wenn man das zum ersten Mal sieht, ist man verblüfft: Gummi kann eine sehr hohe interne Dämpfung haben, eine solche Kugel springt kaum. Und man versucht jetzt, Gummimischungen zu machen, die bei den Frequenzen eine besonders hohe Dämpfung haben, die beim Gleiten eines Reifens über eine raue Straßendecke auftretenden. Das weiß man schon lange, aber jetzt ist auch eine ordentliche Theorie dazu da.

    Die interne Dämpfung kommt zustande ohne dass im Gummi starke chemische Bindungen zu Bruch gehen, anderenfalls sich ein Reifen früh zerlegen würde. Molekulare Platzwechsel aber finden durchaus statt. Persson:

    Wenn man Gummi verformt, bewegen sich Moleküle gegeneinander, und dabei geben sie Energie ab. Und wenn man die Gummimischung richtig abstimmt, kriegt man bei bestimmten Frequenzen eine sehr hohe Reibung. Das alles ist auch temperaturabhängig, wenn man den Ball mit hoher Dämpfung erwärmt, wird er genau so elastisch wie der andere. Denn wenn sich die Moleküle gegeneinander bewegen, müssen sie Energiebarrieren überwinden, was Dämpfung hervorruft - eine höhere Temperatur hilft dagegen, diese Barrieren zu senken.

    Alles das sollte ein Formel-1-Reifenmeister im Gefühl haben, was verständlich macht, warum so häufig die falschen Reifen aufgezogen werden.