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Integration gegen steigende Aggression

Psychologie. – Vor einem Jahr rüttelte der Alarmruf der Lehrer von der Berliner Rütli-Schule Deutschland auf. Den Pädagogen entglitt die Situation an der Hauptschule und sie verlangten Unterstützung. Heute stellte der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen seine Untersuchung der psychischen Situation von Kindern und Jugendlichen in Deutschland vor.

Von William Vorsatz | 30.03.2007
    An der Spreewaldgrundschule in Berlin-Schöneberg kommt es oft zu Handgreiflichkeiten. Murat Eroglu ist zwölf Jahre alt und geht in die 5. Klasse. Die Gewalt gehe vor allem von den Älteren aus, klagt er. Von den Jungs aus der 6. Klasse.

    "Also, wenn die gegen Kleinere schlagen, die greifen einfach so richtig an. Meist, wenn der Kleinere Ausdrücke gesagt hat. Nur wegen Ausdrücken greifen die an. Die geben Tritte, wenn die in der Schule schon gekämpft haben, machen die nach der Schule weiter. Also das sind bestimmte Schüler, gibt es auch bei uns in der Klasse."

    Gewalt ist eines der Hauptprobleme unter Kinder und Jungendlichen, wissen die Psychologen. Und sie steigt an. Für den mehr als 100 Seiten umfassenden Bericht zur Kinder- und Jugendgesundheit in Deutschland hat der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen zahlreiche Daten zusammengetragen. Von verschiedenen Universitäten und aus der Praxis. Professor Günther Esser von der Uni Potsdam:

    "Es gibt natürlich sehr selten Studien, die, sagen wir mal, in 20 Jahren Abstand genau die selbe Methodik verwenden. Deswegen ist das immer mit etwas Vorsicht zu betrachten. Trotzdem müssen wir davon ausgehen, bei den Studien, die sehr ähnliche Verfahren verwendet haben, dass man gerade so im Gewaltbereich und im Aggressionsbereich insgesamt, dass man doch so mit Steigerungsraten von fünfzig bis 70 Prozent rechnen muss, in 20 Jahren ungefähr."

    Warum aber sind die Kinder und Jugendlichen so viel aggressiver und gewaltbereiter als vor 20 Jahren? Die zerbrechenden Familienstrukturen seien daran schuld. Und ein härter werdender Wettbewerb, der vor allem gnadenlos auslese statt behutsam zu fördern. Andere Länder wie die Pisa-Sieger setzten mehr auf Unterstützung, betont der Politologe und Psychologe Thomas Kliche von der Universität Hamburg.

    "Die Pisa-Führungsländer fördern. Sie fördern Kinder, sie integrieren Kinder, die integrieren Leistungsstufen, sie schaffen ein Ermutigungsklima, sie schaffen ein Mitnahmeklima."

    Bei Ausgrenzung entstehe dagegen ein Klima, das zu psychischen Beeinträchtigungen und Erkrankungen führt. Angststörungen und Depressionen sind in der Kindheit die Folge, im jugendlichen Alter dann auch Süchte und Selbstmordgefährdung. Verschiedene epidemiologische Studien belegen jedoch: acht von zehn psychisch erkrankten Kindern und Jugendlichen bleiben unbehandelt. Sicher werden die meisten auch spontan wieder gesund, aber das Risiko bleibender Beeinträchtigungen ist hoch. Dazu gehören spätere auch körperliche Leiden wie Fettsucht und Bluthochdruck. Der Verband der Psychologinnen und Psychologen fordert daher mehr Kinder- und Jugendpsychologen und eine Sensibilisierung der Kinderärzte. Außerdem plädiert er für Integration statt Auslese durch Leistung. Manchmal greifen jedoch auch einfachere Maßnahmen, wie an der Spreewaldgrundschule in Berlin. Der Schüler Murat Eroglu:

    "Wir haben Securities, also Aufsicht in der Schule. Und wenn wir Streit haben, bringen die uns auseinander, und dann klären wir es mit den Konfliktlotsen. Also wir haben nicht mehr so oft Streit wie früher."