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"Integration steht für den Verlust von Freiheitsgraden"

Koldehoff: Dirk Baecker ist Professor für Soziologie an der Universität Witten/Herdecke und ein Fachmann für das, was seit Niklas Luhmann Systemtheorie heißt, die Beschreibung der Funktionsdynamik einer modernen Gesellschaft also. Nun wird diese, unsere Gesellschaft, seit einigen Tagen ja neu zu definieren versucht, nicht als einheitliches Ganzes, sondern als System von Parallelgesellschaften. Hier beispielsweise die christlich-westliche, dort die islamisch-östliche. Ich habe Dirk Baecker gefragt, ob es denn tatsächlich jemals die homogene Gesellschaft gegeben hat, die nun angeblich auseinander zu brechen droht.

Moderation: Stefan Koldehoff |
    Baecker: Natürlich in keiner Weise. Wir leben in einer hochgradig kulturell differenzierten Gesellschaft und nicht nur in einer kulturell differenzierten Gesellschaft wegen verschiedener Ethnien oder verschiedener Religionszugehörigkeiten, sondern auch in einer kulturell verschiedenen Gesellschaft, in einer hochgradig differenzierten Gesellschaft wegen verschiedener Herkünfte, verschiedener Altersklassen, verschiedener Generationen, verschiedener Eigentumsklassen usw. Von Homogenität kann gar keine Rede sein, so dass dieses Wort von der Parallelgesellschaft einen Traum bezeichnet, der in dem Moment akut und aktuell wird, in dem nun wirklich nicht mehr darüber hinwegzugehen ist, dass er nicht mehr gilt.

    Koldehoff: Was für ein Traum, ein angenehmer Traum oder eher ein Albtraum?

    Baecker: Es ist ein Albtraum einer irgendwie in einer deutschen Leitkultur, wie das Wort vor ein paar Jahren hieß, verankerten gesellschaftlichen Identität eines Landes, das eigentlich sowohl historisch wie auch regional - man denke nur an die Osterweiterung der EU - mehr Anlass hat, darüber nachzudenken, was aus ihm werden kann, als irgendeinen Anlass hat, herauszufinden, was es denn nun sei in dieser wunderbaren ontologischen Eindeutigkeit.

    Koldehoff: Nun glauben ja die Leute, die jetzt von den Parallelgesellschaften reden, das auch belegen zu können. Da ist die Rede von türkischen Clubs, in denen nur Fernsehen gesehen und geraucht würde. Da ist die Rede von eigenen Koranschulen, auf der anderen Seite christliche Grundschulen. Da ist die Rede davon, dass bestimmte Ethnien oder religiöse Gruppen in Deutschland ihre eigenen Läden, ihre eigenen Treffpunkte, ihr eigenes soziales System aufgebaut haben. Woher rührt denn dieser Eindruck?

    Baecker: Na ja, muss man sich dann nicht auch über die vielen Stammtische in den deutschen Kneipen Gedanken machen, in denen nichts anderes gelesen wird als Bild-Zeitung? Muss man sich nicht über die immer noch zahllosen Universitätsseminare in diesem Lande Gedanken machen, in denen so getan wird, als wenn man aus der Lektüre von Texten von Aristoteles oder Hegel tatsächlich noch etwas lernen könnte? Muss man sich nicht über alle möglichen Orte der Abgeschlossenheit, der Isolation, der Konzentration auf irgendein besonderes Interesse Gedanken machen? Ich glaube, es würde weiterführen, wenn man das Nachdenken über die Gesellschaft als ein Nachdenken über unsere städtische Form von Gesellschaft führen würde, und da gilt der alte Satz, an dem ich immer noch glaube, den Max Weber einmal gesagt hat, dass eine Stadt davon lebt, dass man es erträgt, mit Unbekannten zusammenzuleben, um auf verschiedener Art und Weise, an der Kinokasse, bei der Schlange vor dem Fleischer oder beim Autounfall, mit ihnen Bekanntschaft zu machen, sie aber ansonsten leben zu lassen.

    Koldehoff: Das heißt, das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Systeme muss nicht notwendigerweise zur Konfrontation oder gar zur Eskalation führen?

    Baecker: Ganz und gar nicht. Man muss schon sehen und auch ernst nehmen, dass jede einzelne Subkultur, sei es die des weißen Deutschen, sei es die der jungen Frau, sei es die der frechen Kinder, was auch immer, davon lebt, in Kontakt mit anderen zu stehen und sich deswegen verteidigen muss, aber auch Dinge lernt, imitiert von den andern, und das dies natürlich generell und überall auch immer einen gewissen Sprengsatz birgt. Aber andrerseits denke ich, dass der Umgang mit den Subkulturen, mit der Verschiedenheit der Subkulturen sich am Konzept der Diversität, der Verschiedenheit, und vor allem am Konzept der Ökologie orientieren sollte, wenn Ökologie heißen darf, dass es so etwas ist wie ein gemeinsames Dach, ein Großes und Ganzes, das den Sinn von allem Einzelnen vermittelt, nicht mehr gibt, sondern dass es schlicht und ergreifend Nachbarn sind, nichts anderes als Nachbarn.

    Koldehoff: Aber dann wäre doch ein erster Schritt zunächst einmal die Anerkenntnis, dass es solche Subkulturen oder Subsysteme gibt. Haben wir da jahrelang mit einer Lebenslüge uns abgeplagt und das nicht eingestehen wollen?

    Baecker: Ich glaube, dass jeder von uns, der auf die Straße geht oder sich im Bus umsieht, mit dem er durch die Gegend fährt, auf der Ebene seiner Lebenspraxis mit dem Verschiedensten immer schon sehr vernünftig, sehr ertragreich, zuweilen sehr zivil, das heißt mit der Chance sich kennen zu lernen, umgegangen ist. Den riesigen Mangel, den ich sehe, ist, dass wir keine Sprache, keine Beschreibungsebene unserer so genannten deutschen Gesellschaft haben, in der diese Verschiedenheit ein selbstverständlicher und ein selbstverständlich lebenswerter Sachverhalt ist.

    Koldehoff: Das große Wort, das immer alles zugedeckt hat, was das der Integration, also alles sollte ein schönes großes Ganzes, Harmonisches werden.

    Baecker: Ja, die Sehnsucht ist verständlich. Die Sehnsucht ist soziologisch aber gleichzeitig merkwürdig, wenn man sich klarmacht, dass Integration immer schon darüber gelaufen ist, dass man bestimmte Freiheitsgrade aus der Gesellschaft herausnimmt. Wir beide können uns in dieses Gespräch, das wir im Moment führen, ja nur insoweit integrieren lassen, als wir uns darauf einlassen, miteinander zu reden und währenddessen nicht mit anderen zu reden. Also Integration ist ein Begriff, der über den Verlust von Freiheitsgraden läuft. Wenn man glaubt, sich das gegenseitig zumuten zu können, und wenn man Partner findet, die bereit sind, sich Freiheitsgrade nehmen zu lassen, ist das OK. Aber wenn man diese Freiheitsgrade den anderen rauben muss, dann entsteht daraus nur weiterer Konflikt.