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Integration und Kultur

Das Theaterstück einer türkischstämmigen Steglitzerin mit japanischer Vorlage ist eine der Produktionen, mit denen das Berliner Ballhaus Naunynstraße derzeit für ausverkaufte Vorstellungen sorgt. Die "Hitbühne" ("Tagesspiegel") hat etwas über das postmigrantische Leben in Deutschland zu erzählen.

Von Hartmut Krug | 12.01.2011
    "Was will Niyazi in der Naunynstraße" fragte 1973 der türkischstämmige Schriftsteller Aras Ören. In seinem Poem erzählte er von Fremdheit und Identitätssuche türkischer Gastarbeiter in Kreuzberg. Zwei Generationen später werden auf der Bühne des Ballhaus Naunynstraße andere Geschichten erzählt: nicht von Gastarbeitern, sondern von türkischen Deutschen, Migranten und Postmigranten. Auch wenn derzeit geradezu ein Hype um das Ballhaus Naunynstraße entstanden ist: Deutsche Stadttheater haben nicht erst seit Sarrazins Kampfschrift Deutschland als interkulturelle Gesellschaft entdeckt. Und auch das Programm des Ballhauses ist nicht aus dem Nichts entstanden. Dessen Leiterin Shermin Langhoff, die mit neun Jahren aus dem türkischen Bursa nach Nürnberg kam, dort die "Türkei Filmtage" mit begründete und ab 2004 etliche interdisziplinäre Theaterfestivals am Berliner Hau kuratierte, hat sich ein Netzwerk von Kulturschaffenden der zweiten und dritten Migrantengeneration aufgebaut. Was ihr vielfältiger Spielplan bietet, hat mit dem alten sozialkulturellen türkischen Betroffenheitstheater der 70er- und 80er-Jahre nichts mehr zu tun. Es wendet sich auch nicht nach innen, in die türkische Gemeinde, und es geht nicht mehr so sehr um eine Rückschau nach Anatolien und das Ankommen in Deutschland, sondern um ein selbstverständliches und oft auch erfolgreiches Dasein in Deutschland.

    "Wir zeigen jetzt nicht die Erfolgstürken, das ist nicht unser Konzept. Natürlich interessiert uns das Leben mit all seinen Brüchen, Widersprüchen. Insofern ist es um so schöner, wenn trotzdem am Ende ein Gefühl von neuen, gemeinsamen Räumen geschaffen ist, als eben die Reproduktion und die Bemühung, immer wieder die Ghettogeschichten vom Rande der Gesellschaft."

    Zwangsheirat und Ehrenmord als Klischees vieler Stadttheaterstücke bestimmen nicht die Stücke am Ballhaus, und die sozialen Probleme werden hier nicht als ethnische missverstanden.

    In "Klassentreffen - Die 2. Generation" sehen wir sechs Experten des Alltags der zweiten deutsch-türkischen Generation auf der Bühne, die von ihrer Lebenswirklichkeit als Musikproduzent, Abgeordneter, Taxiunternehmer oder Polizeikommissarin erzählen. Und in "Ferienlager - Die 3. Generation", auch dies eine Produktion der Programmreihe "akademie der autodidakten", spielen jugendliche Deutschtürken mit viel körperlichem und musikalischem Elan uns ihr Leben vor. Theater fungiert so zugleich als Identitäts- wie als Informationsmaschine:

    "Es ist ja durchaus auch so, dass in Stoffen wie 'Verrücktes Blut' und in 'Ferienlager', wo wir auch mit jugendlichen Darstellern arbeiten, durchaus auch deren Erfahrungen zutage kommen. Aber die haben auch durchaus eben traumatische und dramatische Erfahrungen, die jeder andere in ihrem Alter auch haben könnte, jenseits von der Herkunft."

    Das Spektrum der Themen und der künstlerischen Handschriften ist weit. Neben dem Erfolgsstück "Verrücktes Blut", in dem eine Lehrerin ihre Schüler mit Schiller zähmt, steht das musikalische Schauspiel "Lö Bal Almalnya" im Programm. Nurkan Erpulat hat es als furiosen Durchgang durch 60 Jahre türkischer Gastarbeitereinwanderung gestaltet, in dem deutsche Volkslieder nicht nur Kommentare, sondern zugleich Beispiele für kulturelle Aneignung sind.

    In "Die Schwäne vom Schlachthof"wird auf der Grundlage von Interviews über die politische Migration nach West- und Ostdeutschland berichtet, und die Bühnenfassung von Orhan Pamuks Roman "Schnee" verlegt die Handlung aus Anatolien in eine deutsche Kleinstadt, die Nährboden für ideologischen Radikalismus wie den Islamismus bietet.

    Da Künstler mit türkisch migrantischem Hintergrund sich zuerst in Film und Fernsehen durchsetzten, arbeiten an Shermin Langhoffs Bühne viele Filmregisseure erstmals für das Theater. Wie die Regisseurin und Schauspielerin Idil Üner, die mit "Funk is not dead" gerade eine Komödie über den Medien- und Kulturbetrieb inszeniert. Das Ensemble umfasst Darsteller mit migrantischem Hintergrund ebenso wie sogenannte Biodeutsche, gespielt wird natürlich auf Deutsch. Shermin Langhoff:

    "Ich würde mittlerweile sagen, dass vielleicht dieses gemeinsame neue Deutsche nicht nur die Eingliederung des Postmigrantischen braucht in den Stadt- und Staatstheatern, sondern dass es selbst eigentlich das Konzept sein müsste. Eigentlich wäre ich jetzt so vermessen zu sagen: Jedes Theater in Deutschland müsste sich erstmal per se als postmigrantisches verstehen."