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Integration zwischen den Seilen

Eine halbe Million Sinti und Roma sind von den Nationalsozialisten ermordet worden. Lange mussten ihre Nachfahren um Anerkennung kämpfen. Doch noch immer werden Sinti und Roma ausgegrenzt. Wie kann der Sport helfen, um Akzeptanz für sie zu fördern?

Von Ronny Blaschke |
    Oswald Marschall steigt in den Ring und lehnt sich in die Seile, er beobachtet seine Schüler bei der Sparringsrunde ganz genau. Marschall ist ein Mann von mächtiger Statur. Er gibt leise Anweisungen, möchte seine Kämpfer fördern, er will ihnen keine Befehle erteilen. Sie blicken zu ihm auf, denn sie wissen, er hat viel geleistet. Marschall war selbst ein erfolgreicher Boxer gewesen. In den siebziger Jahren eilte er von Sieg zu Sieg - obwohl er es schwerer gehabt hatte als seine Konkurrenz.

    Oswald Marschall ist Sinto, Mitglied einer vernachlässigten Minderheit. Über keine andere Volksgruppe wissen die Mehrheitsgesellschaften so wenig und glauben so viel Negatives zu kennen. Marschall wurde in Minden geboren, in Nordrhein-Westfalen. Seine Vorfahren stammen aus Deutschland, und trotzdem mussten sie um Respekt kämpfen. Viele Überlebende des Holocausts trafen in Amtsstuben und Arztpraxen auf Stützen des einstigen Nazi-Regimes. Der Bundesgerichtshof rechtfertigte noch 1956 die Verfolgung der "Zigeuner" als "vorbeugende Kriminalitätsbekämpfung". Behörden verweigerten ihren Kindern die Schulpflicht. Oswald Marschall wollte schon als Jugendlicher beweisen, dass auch Sinti an die Spitze vordringen können. 1971 boxte er zum ersten Mal für das deutsche Nationalteam.

    "Und ich habe das Deutschlandlied gehört und dann sind mir die Knie weich geworden, ich habe Tränen in die Augen gekriegt. Und wenn man dann überlegt, dass 1982 erst anerkannt wurde, dass Sinti und Roma aus den gleichen Beweggründen ermordet wurden wie die Juden, das macht mich eigentlich noch traurig. Das kann doch wohl nicht möglich sein."

    Nach seiner erfolgreichen Laufbahn wurde Marschall Vorsitzender und Trainer des Boxclubs Minden, drei Kämpfer sind unter seiner Leitung Deutscher Meister geworden. Im Frühjahr 2010 reiste Marschall mit einer Delegation des Deutschen Fußball-Bundes nach Ungarn, wo mehr als ein Dutzend Roma in den vergangenen drei Jahren ermordet worden waren. Mit Freunden suchte Marschall Sponsoren und gründete den Kulturverein Deutscher Sinti in Minden.

    "Wir haben ungefähr zehn Nationalitäten. Das ist Integrationsarbeit: Kameradschaft, Disziplin, das ist eigentlich das wichtigste bei uns. Dass sich unsere Menschen auch der Mehrheitsgesellschaft gegenüber mehr öffnen und dass man die Menschen zusammenführt."

    Eine Studie zur Bildungssituation der Sinti und Roma kommt zu dem Ergebnis, dass 44 Prozent der Befragten die Schule ohne einen Abschluss verlassen haben. Unter den 14- bis 25-Jährigen gaben neun Prozent an, nie eine Grundschule besucht zu haben. Der deutsche Durchschnitt liegt unter einem Prozent. Oswald Marschall startete in seinem Verein das Projekt "Echt clever!". Zum Angebot gehören Berufsberatung und Sprachförderung. Marschall erwähnt einen seiner Boxer.

    "Ist als Schüler zu mir gekommen, war zwölf Jahre. Und er war ein – ich sage mal – ein Raufbold, kein guter Schüler. Und der hat bei mir Hausaufgabenhilfe bekommen und hat jetzt sein Abitur bestanden – und da bin ich sehr stolz drauf."

    Am Montag vor der Einweihung des Mahnmals hat Oswald Marschall seine Arbeit mit Jugendlichen im Boxcamp Kreuzberg vorgestellt, das nach Johann Trollmann benannt ist. Der deutsche Sinto Trollmann gewann 1933 die Deutsche Meisterschaft im Halbschwergewicht. Die Nazis bezeichneten seinen Kampfstil als undeutsch, verhinderten seine Karriere und ermordeten ihn 1944. In Kreuzberg folgte nun dem Schaukampf der jungen Boxer eine Lesung von Roger Repplinger. Der Journalist aus Hamburg hat die Geschichte Trollmanns in einem Buch beschrieben, der Titel: "Leg dich, Zigeuner". Oswald Marschall erwähnt die Biografie Trollmanns in seiner Jugendarbeit immer wieder. Als Warnung vor Menschenfeindlichkeit – und als Prävention gegen Diskriminierung.