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Integration zwischen Leitkultur und Multikulti

Der Streit um Fragebögen für die Einbürgerung, die Diskussion um die Integration von Muslimen und die Vorfälle an der Berliner Rütli-Schule haben sie neu angefacht - die Debatte um die Leitkultur. Das Haus der Geschichte in Bonn hat die Diskussion aufgegriffen und zu einer Konferenz mit dem Titel "Leitkultur. Vom Schlagwort zur Sache" eingeladen.

Von Christoph Schmitz |
    Die Ideologen des Multikulti reagierten bis vor nicht langer Zeit fast hysterisch auf den Begriff der Leitkultur, den der Islamwissenschaftler Bassam Tibi vor Jahren in die Diskussion um europäische Werte gebrachte hatte und den später die Unionspolitiker Friedrich Merz, Angela Merkel und jüngst Bundestagspräsident Norbert Lammert aufgriffen. Einen Grund für die Aversion formulierte der Kulturwissenschaftler- und politiker Hans Maier auf dem Bonner Symposium im Haus der Geschichte:

    "In Deutschland streitet man gern über Worte, wenn man sich an eine Sache nicht herantraut oder vor ihr ausweichen will."

    Doch die Sachlage, also Berliner Ehrenmord, Rütli-Schule und Bonner Burka-Streit, scheint nun auch die Wortstreiter zu zwingen, sich mit der Sache zu beschäftigen. Norbert Lammert kam ihnen in seinem Auftaktvortrag weit entgegen.

    "Der Begriff ist ganz sicher missverständlich, jedenfalls erklärungsbedürftig, für viele offensichtlich provozierend und erschwert insofern die Diskussion, die befördern möchte."

    Doch der Zweifel an dem Begriff dürfe nicht verdrängen …

    "… dass jede Gesellschaft einen Mindestbestand an gemeinsamen Überzeugungen und Orientierungen braucht, ohne die auch ihre Regeln und gesetzlichen Rahmenbedingungen auf Dauer keinen Bestand haben. Kein politisches System kann ohne kulturelles Fundament gemeinsam getragener Überzeugungen seine innere Legitimation aufrechterhalten."

    Mit Thesen des Verfassungsrechtler Böckenförde, des Philosophen Habermas und des Theologen Ratzinger verwies Lammert auf die vorpolitischen moralischen Grundlagen des freiheitlichen Staates, auf säkulare Rationalität und christliche Traditionslinien. Selbst wenn demokratischer Verfassungsstaat und Menschenrechte universelle Gültigkeit beanspruchten, seien sie faktisch nicht überall anerkannt, eben weil sie kulturell verwurzelt sind, diagnostizierte Lammert im Sinne Ratzingers. Einen Baum bewundern, ohne seine Wurzeln zu pflegen, sei aber nicht möglich. Und damit Schlug er wieder den Bogen zur Integration der Einwanderer:

    "Ohne ein Mindestmaß an Gemeinsamkeiten erträgt eine Gesellschaft keine Vielfalt."

    Nicht alle Teilnehmer des Symposiums wollten bei der Suche von Gemeinsamkeiten so tief in dem kulturellen Humus graben wie der Bundestagspräsident. Der deutsch-französische Politologe Alfred Grosser wollte mit Leitkultur nur die schwarz-rot-goldene Demokratiebewegung seit 1832 verbinden, der Bonner Rechtswissenschaftler Isensee nannte die deutsche Rechtskultur, Guido Westerwelle ließ nur das Grundgesetz gelten.

    Die Veranstaltung zeigte deutlich, wie eng die Frage nach einer Leitkultur mit der Integrationsdebatte verbunden ist. Nur selten kam der Hinweis, dass ja auch in der originär deutschen Gesellschaft ganze Gruppen kulturell wegbrechen. Ideen zur Integration vor allem der muslimischen Einwanderer suchte man mit einem historischen Blick auf den Schmelztiegel USA. Verschmelzung zeigte sich als Euphemismus, als rigide Assimilationserwartung und -bereitschaft. Maßstab dabei war bis weit in die 60er Jahre die angloamerikanische weiße Kultur der Protestanten. Der Politologe Hans-Peter Schwarz entwickelte daraus ein ganzes Bündel von Integrationsthesen für Deutschland. Dazu gehören: Bereitschaft zur Assimilation, Politik muss auf die Akzeptanz durch die Bürger rechnen können, ständige Korrekturen der Einwanderungspolitik.

    Der Soziologe Claus Leggewie zeichnete ein ganz anderes Bild der US-amerikanischen, jetzt vor allem hispanisch geprägten Einwanderergesellschaft mit entsprechenden Konsequenzen für Deutschland. In Kreisen bildete er die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen von weiß, über gelb, bis braun und schwarz ab, in der Mitte ein leerer Kreis:

    "Der Begriff muss leer bleiben. Das Zentrum muss leer bleiben. Eine mulitkulturelle Gesellschaft hat kein substanziierbares Zentrum: Dies ist die maßgebliche Kultur. Es sei denn Sie wollen da wieder im Sinne des 19. Jahrhunderts 'Anglo-American' einfügen."

    Was das kulturelle Fundament ist, bestimmen also alle gleichermaßen, soll das wohl heißen, gleich wie die Mehrheitsverhältnisse sind, gleich ob es in Deutschland rund 70 Millionen Inländer und 14 Millionen Migranten sind. So plädierte auch die Grüne Fraktionschefin Renate Künast am Ende der Veranstaltung für einen neuen "Gesellschaftsvertrag". Womit die gute Diskussion des Tages am Schluss wieder in die Ideologiefalle geraten war.