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Intelligenz
Entenküken ziehen abstrakte Schlüsse

Abstrakte Konzepte erfassen gilt als Zeichen für Intelligenz. Die Überraschung: Selbst frisch geschlüpfte Entenküken können schon mit abstrakten Kategorien wie "Gleich" oder "Verschieden" umgehen. Sie sind nach neueren Untersuchungen schlauer als gedacht.

Von Michael Gessat | 15.07.2016
    Entenkücken schwimmen im See.
    Entenkücken schwimmen im See. (picture alliance / dpa /Franziska Kraufmann)
    Wer einen richtig treuen Freund fürs Leben sucht, braucht sich nur vor ein bebrütetes Gänse- oder Entenei zu postieren und dafür zu sorgen, dass beim Schlüpfen und einige Zeit danach Mutter Gans, die Entengeschwister und die ganze sonstige Welt außer Sichtweite sind. Das Küken und später auch das erwachsene Federvieh reagieren nämlich mit ziemlich bedingungsloser Anhänglichkeit auf das, was sie als erstes erblicken - solange es sich ein wenig bewegt und vielleicht auch noch ein paar Laute von sich gibt. Zur Not tut es aber auch ein unbelebtes Objekt wie ein Fußball.
    "Dieses als "Prägung" bekannte Phänomen wird ja schon lange erforscht, Konrad Lorenz hat das in den 1930er Jahren als Erster im Detail beschrieben. Und es gab eine Menge unterschiedlicher Meinungen, was da eigentlich genau passiert. Die einfachste Erklärung ist ja: Das Küken schlüpft und speichert quasi ein Foto der Mutter ab, dem es dann mit extremer Anhänglichkeit folgt – das wäre also kein besonders komplexes Verhalten."
    Aber neuere Studien hätten diese simple Erklärung praktisch widerlegt, so fasst Antone Martinho von der Universität Oxford den Forschungsstand zusammen: Die Frage sei nun vielmehr: Beruht "Prägung" eigentlich nur auf unmittelbaren Sinneseindrücken, oder sind vielleicht sogar Regeln und Kategorien mit im Spiel? Martinho und sein Kollege Alex Kacelnik konzipierten ein Experiment von bestechender Einfachheit: Frisch geschlüpften Entenküken präsentierten sie jeweils für eine halbe Stunde zwei rote Objekte, denen die Vögel hinterherschauen oder -watscheln konnten. Die Objekte waren dicht nebeneinander an Schnüren an der Decke aufgehängt und bewegten sich langsam im Kreis. Die einen Küken bekamen zwei gleiche Objekte präsentiert, etwa zwei Kugeln; die anderen zwei unterschiedliche, etwa einen Kegelstumpf und einen Zylinder.
    "Danach durften die Küken sich eine halbe Stunde ausruhen, und dann haben wir sie wieder in den Testraum gesetzt, in dem sich aber diesmal zwei solche Objektpaare bewegten, wieder beide rot, ein gleiches Paar, und ein ungleiches. Und die Küken konnten wählen, welchem Paar sie folgen wollten."
    Der Witz bei der Sache: Wenn die Küken zu Beginn mit zwei gleichen Kugeln geprägt worden waren, bekamen sie als "gleiches Paar" nun zwei Pyramiden zu sehen; wenn sie die erste halbe Stunde mit einem ungleichen Paar "Kegelstumpf und Zylinder" verbracht hatten, bekamen sie nun als "ungleiches Paar" die Kombination "Würfel und Quader" angeboten. Das Ergebnis war trotzdem eindeutig: Die auf "gleich" konditionierten Küken folgten dem "gleichen" Objektpaar, die auf "ungleich" geprägten dem ungleichen, auch wenn sie das in der konkreten Gestalt noch nie zuvor gesehen hatten.
    "Wir haben das Experiment mit Farben wiederholt, alle Objekte waren Kugeln, gleiche Paare waren also solche mit gleichen Farben – und in der zweiten Phase waren alle Farben andere als beim Training – aber wieder haben die Küken das Konzept gewählt, auf das sie geprägt worden waren."
    Warum es evolutionsbiologisch sinnvoll sein könnte, Kategorien wie "gleich" oder "ungleich" neuronal anzulegen und abstrakt unterscheiden zu können – und zwar direkt nach dem Schlüpfen, also ohne durch Belohnung oder Misserfolg stimulierte Lernphase, ist klar: Das Erkennen der Mutter anhand von abstrakten Konzepten wäre viel flexibler und verlässlicher als die Beschränkung auf ein statisches visuelles Abbild.
    "Wir können nichts dazu sagen, was genau im Kopf des Entenkükens vorgeht, was es versteht oder denkt. Was wir sagen ist, dass das Küken Unterschiede auseinanderhalten kann, und dabei nicht rein physische und visuelle, sondern abstrakte Eigenschaften der Testobjekte nutzt, um diese zu identifizieren. Dafür müssen die Tiere nicht zwangsläufig dieselbe Definition dieser Konzepte "Gleich" oder "Ungleich" haben wie wir Menschen."
    Die These "Entenküken sind schlauer als gedacht" aus der Science-Pressemitteilung ist also vielleicht etwas spekulativ - ob die Abstraktionsleistung auf einer komplexen oder sehr einfachen neurophysiologischen Grundlage beruht, das ist noch offen. Denkbar wäre übrigens auch, dass die Küken im Versuchsaufbau gar keine gleichen oder ungleichen Objekt-Paare erkannt haben, sondern Einzelobjekte, die jeweils geometrisch oder farblich symmetrisch oder unsymmetrisch aussahen; das wollen die Oxforder Forscher nun in Folgeexperimenten klären.