Donnerstag, 28. März 2024

Intensivmedizin
Ärzte klagen gegen umstrittenes Triage-Gesetz

Wer entscheidet bei Engpässen darüber, wer auf einer Intensivstation behandelt wird und wer nicht? Das beschlossene Triage-Gesetz sollte hier klare Regelungen schaffen - doch nun steht es auf der Kippe.

28.12.2023
    Ein Fachkrankenpfleger und eine Ãrztin  schauen nach einer Patientin auf der Intensivstation am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein.
    Triage: Wer wird behandelt, wenn die Intensivbetten nicht mehr für alle Patienten reichen? (picture alliance / dpa / Frank Molter)
    Wenn Personal und Technik auf Intensivstationen knapp werden, sollen Ältere und Menschen mit Behinderungen nicht benachteiligt werden. Das sieht die Triage-Regelung vor, die seit November 2022 im Infektionsschutzgesetz steht.
    Der Ärzteverband Marburger Bund will das umstrittene Triage-Gesetz nun kippen, da es gegen die Grundrechte von Ärztinnen und Ärzte verstoße. 14 Notfall- und Intensivmediziner haben daher im Dezember 2023 Verfassungsbeschwerde gegen das Infektionsschutzgesetz (IfSG) des Bundes eingelegt.

    Inhalt

    Was gibt das Gesetz für die Triage vor?

    Gemäß der gesetzlichen Regelung zur Triage soll bei der Entscheidung nur die aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit den Ausschlag geben. Weitere Erkrankungen dürften in der aktuellen Lage nur eingeschränkt berücksichtigt werden. Damit sollen andere Faktoren wie Geschlecht, Alter, Behinderung, Vorerkrankung (sofern sie nicht kurzfristig Einfluss haben), sexuelle Orientierung, Ethnizität oder auch Aspekte wie sozialer Status oder Einkommen keine Rolle spielen und damit eine Diskriminierung verhindert werden. Je nach Fall sollen bis zu drei Ärzte über die Behandlungsreihenfolge entscheiden, was von manchen Medizinern als unpraktikabel kritisiert wird.
    Ein anderer wichtiger, aber auch umstrittener Eckpunkt: Eine sogenannte Ex-Post-Triage wird ausgeschlossen. Wer einmal ein intensiv-medizinisches Bett bekommen hat, dem soll es nicht wieder weggenommen werden; eine laufende Behandlung soll nicht zugunsten eines Patienten mit besseren Überlebenschancen abgebrochen werden.
    Vor dem Triage-Gesetz gab es keine gesetzliche Regelung, die Triage war eine rein ärztliche Entscheidung - abgesichert durch ein Mehr-Augen-Prinzip und getroffen nach standardisierten Kriterien. Diese Leitlinien hatte die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) im Rahmen der Covid-19-Pandemie gemeinsam mit weiteren Fachgesellschaften vorgelegt.

    Warum klagen Ärztinnen und Ärzte gegen das Triage-Gesetz?

    Unterstützt vom Ärzteverband Marburger Bund haben 14 Notfall- und Intensivmediziner im Dezember 2023 Verfassungsbeschwerde gegen das Infektionsschutzgesetz (IfSG) des Bundes eingelegt. Die Beschwerde richtet sich gegen die Triage-Regel im Fall von Engpässen bei der Versorgung schwer kranker Patientinnen und Patienten. Die Regelungen verstießen gegen Grundrechte von Ärztinnen und Ärzten, erklärte der Marburger Bund. Sie verletzten die Berufs- und die Gewissensfreiheit. Medizinerinnen und Medizinern würden "Grenzentscheidungen aufgezwungen, die ihrem beruflichen Selbstverständnis an sich widersprechen und sie in eklatante Gewissensnöte bringen".
    Das Gesetz sieht vor, dass die Entscheidung nur nach der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit der betroffenen Patienten getroffen werden darf. Es sei aber widersprüchlich und zu ungenau, kritisieren die Beschwerdeführer, die in der Intensiv- oder Notfallmedizin arbeiten.

    Ärzte wollen Ex-Post-Triage erlauben

    Sie wenden sich auch gegen das Verbot einer sogenannten Ex-Post-Triage, also dass Ärzte die Behandlung eines Patienten zugunsten eines anderen mit besseren Überlebenschancen abbrechen dürfen. Ihnen werde dadurch zugemutet, entscheiden zu müssen in dem Wissen, "dass sie später eintreffende Patienten mit deutlich besseren Überlebenschancen nicht intensivmedizinisch behandeln können", bemängelte der Marburger Bund.
    So werde die ohnehin schon hohe Belastung in einer solchen Situation verstärkt. Ärzte könnten nicht mehr alles in ihrer Macht Stehende tun, um "unter den schwierigen Umständen einer extremen Ressourcenknappheit die größtmögliche Zahl an Menschen zu retten".
    Beide Regelungen machten ein mit ärztlichen Grundsätzen zu vereinbarendes Handeln in einer Dilemmasituation unmöglich, hieß es weiter. Außerdem verursachten sie "eine erhebliche Rechtsunsicherheit und ein signifikantes Strafbarkeitsrisiko".

    Welche Kritik gibt es sonst am Triage-Gesetz?

    Die Union kritisierte im Bundestag unter anderem, dass nur die Triage im Pandemiefall geregelt werde, andere krisenhafte Situationen wie Naturkatastrophen, Krieg oder Anschläge blieben ausgespart. Die AfD wertet die Regel als Übergriffigkeit des Staates und Ausdruck des Misstrauens gegenüber Ärzten.
    Behindertenverbänden und Patientenschützern geht die Regelung dagegen nicht weit genug. Auch mit dem Kriterium der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit drohe Menschen mit Behinderung weiter Diskriminierung und strukturelle Benachteiligung, befürchtet Maria Andrino von der Caritas Hilfe und Psychiatrie. Wenn es bereits Vorerkrankungen gibt, die auf die Überlebenswahrscheinlichkeit Einfluss haben, können Ärztinnen und Ärzte diese laut Gesetz berücksichtigen. "Das ist pure Diskriminierung, da ganz viele Menschen mit Behinderungen Nebenerkrankungen haben", sagte Andrino im Dlf.
    Auch Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz sieht alte, mehrfach kranke und Menschen mit Behinderung "in der Realität" benachteiligt. Ihm fehlen auch Regeln "für alle nationalen Großlagen" und "Sanktionen für Ärzte, die gesetzliche Vorgaben ignorieren".
    Uwe Janssens, Chefarzt und ehemaliger Präsident der Intensiv- und Notfallmedizinervereinigung DIVI, warnte in diesem Zusammenhang im Dlf vor neuen Klagemöglichkeiten: Gegen ein entsprechendes Gesetz könnte man gegebenenfalls direkt gerichtlich vorgehen. Die Notfallmediziner der DIVI fordern eine genauere zeitliche Definition der Überlebenswahrscheinlichkeit. Zudem kritisieren sie den "kategorischen Ausschluss von Alter und Gebrechlichkeit". Dies greife in die "ärztliche Indikationsstellung" ein.
    Einen anderen Aspekt kritisiert Thorsten Hinz vom Bundesverband Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie. Er wendet sich gegen die kurzfristige Überlebenschance als entscheidendes Kriterium, weil Menschen "aufgrund ihrer Behinderung, ihrer Gebrechlichkeit et cetera nicht in diese aktuelle kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit hineinkämen". Wie auch andere schlägt er stattdessen ein Anonymisierungsverfahren, konkret einen Losentscheid vor.

    Warum musste der Gesetzgeber tätig werden?

    Weil das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) das mit seinem Urteil am 28. Dezember 2021 gefordert hat. Denn bislang gab es noch keine gesetzliche Regelung für eine Triage-Situation. Der Gesetzgeber muss laut BVerfG-Urteil Vorkehrungen zum Schutz von Menschen mit Behinderung für den Fall einer pandemiebedingt auftretenden Triage treffen. Die Richter in Karlsruhe sahen in den bestehenden DIVI-Leitlinien ein potenzielles „Einfallstor für eine Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen“. Die behandelnden Ärztinnen und Ärzte bräuchten eine gesetzliche Handhabe, die sicherstelle, "dass allein nach der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit entschieden wird".

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    Neun Menschen mit Behinderung oder Vorerkrankungen hatten vor dem BVerfG gegen die bisherige Praxis geklagt. Ihre Forderung: Der Gesetzgeber solle Kriterien vorgeben, nach denen Triage im Fall der Fälle erfolgen soll. Sie beriefen sich auf ihr Grundrecht auf Leben, körperliche Unversehrtheit und Gleichbehandlung und auf das verfassungsrechtlich verankerte Verbot von Diskriminierung aufgrund einer Behinderung.

    Anzahl freier und belegter Intensivbetten in Deutschland

    Welche Leitlinien gab es bis dato für Triage?

    Damit das medizinische Personal mit dieser moralisch extrem schwierigen Entscheidung nicht alleine gelassen wird, gab es bisher schon ein Triage-System mit festgeschriebenen Kriterien und Handlungsanweisungen. Durch klare Vorgaben soll verhindern, dass bestimmte Personengruppen bevorzugt oder benachteiligt werden.
    Aktualisierung der Leitlinien in der Corona-Pandemie
    Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) legte dazu im Frühjahr 2020 eine klinisch-ethische Empfehlung zur Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen im Rahmen der Covid-19-Pandemie vor - gemeinsam mit sieben weiteren Fachgesellschaften. Am 14. Dezember 2021 veröffentlichte die Vereinigung eine Aktualisierung, diese wurde aufgrund der Möglichkeit zur Impfung notwendig.
    Wichtigstes Kriterium: klinische Erfolgsaussichten
    Als entscheidendes Kriterium gelten laut der Leitlinie die klinischen Erfolgsaussichten, gemessen an der Überlebenswahrscheinlichkeit des einzelnen Patienten. "Dabei werden – wenn nicht anders vermeidbar – diejenigen Patienten nicht intensivmedizinisch behandelt, bei denen nur eine sehr geringe Aussicht besteht zu überleben. Vorrangig werden demgegenüber diejenigen Patienten intensivmedizinisch behandelt, die durch diese Maßnahmen eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit haben", heißt es in der DIVI-Empfehlung.
    Zudem wird in der neuen Fassung die Gleichbehandlung von geimpften und ungeimpften Patienten betont. Weder der Impfstatus noch eine Behinderung seien Kriterium bei Triage-Entscheidungen. Auch das Alter oder Vorerkrankungen dürfen keine Entscheidungsgrundlage sein.
    Die zweite wesentliche Änderung der Leitlinie zielte, wie die DIVI mitteilte, auf die klinisch-ethischen Grundlagen der Ressourcenverteilung angesichts des gestiegenen Bedarfs für Covid-19-Patienten. Zeichnet sich demnach eine Ressourcenknappheit ab, sollten Krankenhäuser den Regelbetrieb einschränken, um damit Kapazitäten für die zunehmende Anzahl Schwerkranker Covid-19-Patienten bereitstellen zu können. Hierzu sollten zunächst solche Behandlungen aufgeschoben werden, bei denen durch die zeitliche Verzögerung keine Verschlechterung der Prognose, keine irreversiblen Gesundheitsschädigungen oder gar der vorzeitige Tod zu erwarten sind.
    Kriterien für geringe klinische Erfolgsaussichten
    Als Indikatoren für geringe Erfolgsaussichten einer Behandlung geben die Fachgesellschaften folgende Kriterien an:

    • Beurteilung der aktuellen Erkrankung: höherer Schweregrad, etwa akutes Lungenversagen (ARDS, Acute Respiratory Distress Syndrome), begleitende akute Organversagen
    • Beurteilung des allgemeinen Gesundheitszustandes, erhöhte Gebrechlichkeit
    • Prüfen von Begleiterkrankungen, die die Prognose verschlechtern können (etwa fortgeschrittene Krebserkrankung, fortgeschrittene neurologische Erkrankung oder Immunschwäche)
    Je nach Beurteilung wird eine intensivmedizinische Therapie - sofern vom Patienten nicht ausdrücklich anders gewünscht - oder nicht-intensivmedizinische Behandlung beziehungsweise palliativmedizinische Versorgung angeordnet.
    Einhaltung des Mehr-Augen-Prinzips
    Die genannten Kriterien müssen von mehreren Fachleuten geprüft werden (interprofessionelles Mehr-Augen-Prinzip): An der Beurteilung sollen möglichst zwei intensivmedizinisch erfahrene Ärzte inklusive Primär- und Sekundärbehandler sowie möglichst Vertreter der Pflege beteiligt sein. Zudem muss im Laufe der Behandlung die Situation immer wieder geprüft und möglicherweise neu bewertet werden.
    Faktoren wie Alter oder sozialer Status nicht relevant
    Bei allen Entscheidungen gilt der Grundsatz der Gleichbehandlung: Explizit ausgeschlossen wird das Alter als alleiniges Entscheidungskriterium. Ebenso dürfen andere soziale Faktoren keine Rolle spielen.

    Woher kommt der Begriff Triage?

    Der Begriff Triage stammt aus dem Französischen und bedeutet "Auswahl" oder "Sichtung". Er bezieht sich in der Medizin nicht generell auf eine Entscheidung über Leben und Tod, sondern lediglich über die Dringlichkeit und Reihenfolge der Behandlung von Patienten, sodass alle die bestmögliche Versorgung erhalten. Triage bezeichnet die erste Einordnung von Patienten in Kategorien, welche die Schwere ihrer Erkrankung bestimmen. Anhand dessen können Ärzte und Pfleger besser entscheiden, mit welcher Dringlichkeit eine Behandlung erfolgen muss und in welcher Reihenfolge Patienten behandelt werden sollten.
    Priorisierung ist Alltag in der Notaufnahme
    In einer Notaufnahme werden Menschen, denen es besonders schlecht geht, auch besonders dringlich behandelt. Ersteinschätzung und Priorisierung gehören dabei zum Alltag: Patienten mit schweren oder lebensbedrohlichen Symptomen werden schnell versorgt und gegebenenfalls jenen vorgezogen, die durch eine spätere Behandlung keine medizinischen Nachteile haben. Von den Patienten wird dieses Prozedere normalerweise gar nicht bemerkt. Denn das Konzept geht davon aus, dass alle eintreffenden Patienten tatsächlich versorgt werden können, nur eben nicht alle gleich schnell. Bei Massenkarambolagen, Flugzeugabstürzen oder Terroranschlägen, aber auch in einer Pandemie, kann die Situation sich anders darstellen, wenn die Behandlungsressourcen nicht mehr ausreichen.
    Quellen: Michael Hollenbach, DIVI, AWMF, Brockhaus, Bundesärztekammer, dpa, kna, og, fmay, AFP