Montag, 06. Mai 2024

Archiv


Internationalismus und Nationalismus bei den Olympischen Spielen

Forudastan: Der Reporter, der gestern für das deutsche Fernsehen den Wettkampf zwischen den deutschen und den kubanischen Volleyballerinnen beobachtete, war am Anfang ganz ruhig, wurde im Verlauf des Spiels immer lebhafter und geriet am Ende fast außer sich. Mit jubelnder Stimme berichtete er von den vielen Treffern der deutschen Damen. Irgendwie ist das eine merkwürdige, fast schon eine widersprüchliche Sache: Einerseits betonen ja alle Organisatoren der Olympischen Spiele und alle Teilnehmer, dass es bei der ganzen Veranstaltung vor allem um Völkerfreundschaft gehe. Andererseits treten die Athleten aus den unterschiedlichen Ländern ja nicht miteinander, sondern gegeneinander an. Sie und die Zuschauer in ihren jeweiligen Heimatländern sind während der Wettkämpfe kein bisschen internationalistisch ausgerichtet, sondern - meistens jedenfalls - sehr national gesonnen. Man möchte einfach, dass der Sportler oder die Mannschaft aus dem Heimatland gewinnt. Das ist bei den Olympischen Spielen, die vorgestern in Athen begonnen haben, gar nicht anders als bei ihren Vorgängern. Am Telefon begrüße ich Franz Bockrath, Professor für Sportwissenschaft an der Technischen Universität Darmstadt. Herr Bockrath, wir hören und erleben ja jeden Tag, dass die Welt zusammenwächst, dass zum Beispiel Grenzen durch moderne Kommunikation, durch neue Produktionsprozesse und durch die wachsende Mobilität der Menschen enger und durchlässiger werden. Im Sport allerdings bleiben die nationalen Grenzen so stark wie eh und je, oder?

Moderation: Ferdos Forudastan | 15.08.2004
    Bockrath: Das ist ambivalent. Das IOC ist zunächst einmal schon eine weltumspannende Organisation. Die Olympischen Spiele bieten zunächst einmal allen Nationen die Möglichkeit der Teilnahme. Gleichzeitig bietet aber auch dann die olympische Bewegung den einzelnen Staaten die Möglichkeiten, sich darzustellen und als Einzelnationen darzustellen. Vielleicht muss man das geschichtlich sehen. Im 19. Jahrhundert kommt es ja dazu, dass sich auf der einen Seite Nationalstaaten konstituieren und auf der anderen Seite global vernetzt werden. Mit der Entstehungsgeschichte der olympischen Bewegung hängt das sicherlich auch zusammen. Es gibt sozusagen beide Tendenzen, sowohl auf der einen Seite die Internationalisierung als auch die nationale Darstellung auf der anderen Seite.

    Forudastan: Sagen Sie uns noch mal etwas zu der Internationalisierung. Wo drückt sie sich aus Ihrer Sicht, abgesehen von der Rhetorik, im Praktischen, im Alltag der Olympischen Spiele aus?

    Bockrath: Sie sagen es zurecht, vor allen Dingen zunächst einmal in der Rhetorik. Es geht dabei schon darum, dass sich hier eine weltumspannende Bewegung demonstriert. Alle Nationen können teilnehmen. Der Friedensgedanke spielt eine Rolle. Es werden Ideale zitiert. Auch die Medien tragen zur Internationalisierung bei, die dieses Ereignis an alle möglichen Nationen übertragen. Es waren wohl um die vier Milliarden Menschen am Fernsehschirm. Das ist sicherlich eine internationale Bewegung, die hier erkennbar ist.

    Forudastan: Die sich aber jeweils dann, wenn es um die Wettkämpfe geht, in die einzelnen Nationen aufspaltet, die gegeneinander antreten, und zwar nicht nur die Teilnehmer, sondern natürlich auch die Zuschauer.

    Bockrath: Ja, ja. Das macht ja gerade die Spannung aus. Wenn man sich überlegt, wie das Ganze im 19. Jahrhundert entsteht, dann haben wir genau diese Prozesse. Wir haben in jener Zeit die Weltausstellung 1851, das Rote Kreuz, das entsteht, die Esperanto-Bewegung, die Boy Scouts, das sind alles internationale Bewegungen, die entstehen, als die Olympischen Spiele entstehen. Dieser Gedanke wird aufgegriffen und auf die olympische Idee übertragen. Das ist auch die einzige Chance, die die olympische Bewegung seinerzeit hatte. Ich will damit nur andeuten, dass in jener Zeit bereits dieser Gedanke des Internationalismus auf die Nationen übergegriffen hat. Zur gleichen Zeit haben wir aber auch eine Herausfindung des nationalen Bewusstseins. Genau in diesem Spannungsverhältnis bewegt sich dann auch die olympische Idee.

    Forudastan: Können Sie sich vorstellen, dass dieses Nationalbewusstsein, das sich da ausdrückt bei den Olympischen Spielen oder beim Sport überhaupt, im Zuge der Globalisierung oder eines Prozesses wie das Zusammenwachsen von Europa irgendwann schwächer wird?

    Bockrath: Das glaube ich nicht. Der Sport setzt eigentlich immer auf nationale Symbole, auf nationale Werte, auf nationale Erfolge, und genau das wird ja mit den Olympischen Spielen auch gefeiert und demonstriert. Es ist einer der wenigen Bereiche, wo das noch in Reinform demonstriert werden kann.

    Forudastan: Wir hörten ja in diesen Tagen ganz viel von den Schattenseiten des Leistungssports beziehungsweise auch den Schattenseiten der Olympischen Spiele - Stichworte Doping, Korruption und ein fast grenzenloser Kommerz, eine Kommerzialisierung der Wettkämpfe -, und trotzdem ist bei vielen Menschen die Freude an diesem Ereignis und auch die Spannung riesengroß, man kann fast schon sagen, kindlich. Das heißt, es gibt keine Sportverdrossenheit, so wie es zum Beispiel eine Politikverdrossenheit gibt, wenn Politiker auf Abwege geraten. Wie kommt das?

    Bockrath: Ja, das ist in der Tat erstaunlich. Nun, woher beziehen die Olympischen Spiele ihre Anziehungskraft. Ich würde sagen, was die Olympischen Spiele zeigen, ist eine Ideologie der Verbesserung. Die Schwäche des menschlichen Körpers kann besiegt werden. Die Athleten überwinden das Altern scheinbar. Die Vereinzelung des Menschen kann aufgehoben werden. Das wird unter anderem durch die Massenmedien vermittelt. Die Werbung passt gut in den Zusammenhang mit hinein. Da werden Dinge gezeigt, die die Verschönerung des Lebens zeigen, und die Zuschauer haben die Möglichkeit, an diesen Prozessen teilzunehmen, an Triumphen, Macht, Stärke, Schönheit. Sie können aber auch mitleiden - das ist dann die menschliche Seite, die sie mit den Sportlern teilen -, sodass hier verschiedene Anknüpfungspunkte gegeben sind. Das ist sozusagen eine Utopie der Steigerung menschlicher Möglichkeiten, die dort demonstriert wird, und an diesen Dingen nimmt man natürlich gerne teil. Weshalb jetzt Politiker ein so schlechtes Image haben, das müsste man eigens befragen, das kann man sicherlich nicht Eins zu Eins auf die olympische Bewegung übertragen.

    Forudastan: Nein, das kann man wahrscheinlich nicht, aber die Frage ist, wieso zum Beispiel bei dem, was in der Politik geschieht, was nicht korrekt ist, was die Menschen ärgert, was auch im Sport passiert, zum Beispiel Doping oder Korruption, anders reagiert wird? Das scheint das Publikum vollkommen auszublenden, also es möchte sich irgendwie die Unschuld der Spiele, der Spieler und des ganzen Rahmens der Spiele bewahren.

    Bockrath: Ich glaube, es geht nicht um Unschuld, sondern es geht darum, dass bei den Olympischen Spielen Ereignisse, Geschichten, Legenden erzeugt werden, die übrigens weltweit visuell kommuniziert werden. Darum geht es den Menschen. Als 1998 die Tour de France den großen Doping-Skandal hatte, sind die Einschaltquoten keineswegs gesunken, im Gegenteil, sie sind gestiegen. Das heißt, die Menschen haben Interessen an diesen Ereignissen und Geschichten und auch an der Legendenbildung. Dazu gehören auch diese dunklen Seiten, wie Sie sagen. Wenn das in der Politik so ist, wirkt das etwas anders, weil die Menschen natürlich in ganz anderer Form davon betroffen sind. Denken Sie an Hartz IV momentan, das bringt die Menschen auf die Straße. Die Menschen sind erbost darüber, weil es sie natürlich in ganz anderer Weise betrifft, als wenn sozusagen ein Ereignis des Dopings auftritt. Das ist etwas, was die Menschen in einem positiven Sinne interessiert und keineswegs die Einschaltquoten mindert. Ob es dem Sport dienlich ist, das ist eine ganz andere Frage, das glaube ich nicht. Der Sport wird dadurch sozusagen gezwungen, seine eigenen Maßstäbe zu überprüfen, und er stellt sich dadurch auch selber in Frage.

    Forudastan: Könnte man sagen, dass es für die Olympischen Spiele und für Wettkämpfe dieser Art einen schier unbegrenzten Bonus gibt?

    Bockrath: Schier unbegrenzt sicherlich nicht, aber solange es dem Sport gelingt, solche Legenden zu stricken, Ereignisse und Geschichten zu basteln, die auch noch in hervorragender Weise kommuniziert werden können, wo Steigerung, wo Überbietung eine Rolle spielt, wo die Intensivierung des Lebens gezeigt werden kann, solange das gelingt - und dem Sport scheint es sehr gut zu gelingen, sonst würden so hohe Einschaltquoten nicht erreicht werden können -, glaube ich, ist der Sport in seinem Bestand nicht in Frage gestellt. Er wird eher bedroht durch andere Dinge, wie beispielsweise die zunehmende Technologisierung, die zunehmende Kommerzialisierung und Vermarktung. Das sind sicherlich Tendenzen, die auf den Sport zugreifen und dem Sport möglicherweise ein eigenes Ende kommen lassen.

    Forudastan: Inwiefern? Was für ein Ende wäre das?

    Bockrath: Nun, wenn Sie sehen, dass Leistungsdifferenzen beispielsweise im Hinblick auf Weltrekorde kaum noch messbar sind, dann stellt sich in der Tat die Frage, ob der hohe Einsatz des menschlichen Körpers, der immer stärker maschinenähnliche Züge annimmt, noch lohnt, um damit ganz marginale Ergebniszuwächse zu erreichen. Das sind Probleme, denke ich, die sich heute stellen, wodurch der Sport sich selber in Frage stellt.

    Forudastan: Diese Begeisterung für das Zuschauen, für das Teilnehmen am Fernsehen bei den Olympischen Spielen aber auch bei anderen Wettkämpfen, bedeutet die eigentlich auch, dass die Lust, selber Sport zu machen, dadurch gesteigert wird, und dass die Leute auch tatsächlich mehr Sport dann machen?

    Bockrath: Ja, natürlich. Vorbildcharakter hat das Ganze. Sie brauchen nur durch die Regale der großen Kaufhäuser zu gehen vor Fußballweltmeisterschaften, aber auch vor Olympischen Spielen. Dann gibt es die Trikots der jeweiligen Nationen zu kaufen. Es gibt die neuen Sportprodukte, Fußballschuhe, Trikots. Es zeigt schon, dass das einen hohen Effekt auf die Zuschauer hat, insbesondere auf die jugendlichen Zuschauer, die natürlich den Helden und Vorbildern nachstreben.