Freitag, 29. März 2024

Archiv

Internet
Manuskript: Metropolis und Moloch

Straßenschluchten und Glasfaserkabel - beides beherrscht unser Leben. In der realen Welt der Städte nutzen wir Verkehrswege, sind auf Plätzen unterwegs. In der virtuellen Netzwelt heißen diese Plätze Facebook, Twitter oder Google. In der realen Welt der Städte sorgen Polizei und Armee für Sicherheit nach innen und außen. In der virtuellen Welt des Internets kämpfen Staaten und Geheimdienste, Google und die Mafia gleichermaßen um Profit und Macht: Das Internet, in den 90er-Jahren noch als globales Dorf bezeichnet, hat sich in eine bedrohliche Metropolis verwandelt.

Von Peter Welchering | 15.06.2014
    Ein Mann vor einem Rechner mit Quellcode auf dem Bildschirm.
    Der Moloch Internet ist unregierbar geworden (Oliver Berg, dpa picture-alliance)
    Zum roten Ochsen – der Neonschriftzug spiegelt sich in der Pfütze. Gelbes Licht fällt aus der soeben geöffneten Kneipentür. Drei Männer und drei Frauen treten auf die Straße, verabschieden sich in fröhlich-lauter Stimmung vom Wirt. Sie laufen am sechzehnstöckigen Nachbarhaus vorbei, passieren eine Polizeiwache mit blau beleuchtetem Dienststellenschild, erreichen die U-Bahn-Station. Straßen, Tunnel, Gleise. Ein Netz aus Verkehrswegen. Ein Riesengeflecht. Mitten drin die Menschen – sie alle wollen unbehelligt ans Ziel, vertrauen darauf, dass die nächste Bahn kommt, die Straße keine allzu großen Schlaglöcher hat, dass die Kreuzung frei ist, wenn die Ampel grün zeigt.
    Straßenschluchten und kilometerlange große Achsen zum einen, Hausanschlusskästen, Glasfaserkabel und Satelliten auf der anderen Seite – beides beherrscht unser Leben. In der realen Welt der Städte nutzen wir die Verkehrswege, sind auf den Plätzen unterwegs, werden beschützt von der Polizei. In der virtuellen Netzwelt heißen diese Plätze Facebook, Twitter oder Google. In der realen Welt der Städte fahren wir Auto oder U-Bahn. In der virtuellen Netzwelt sind wir mit dem Browser unterwegs, holen Büchershops und Diskussionsforen auf unsere Bildschirme. In der realen Welt der Städte steigen wir in die U-Bahn, lesen Mails auf unserem Smartphone und wundern uns, dass wir schon an der Endhaltestelle sind. In der virtuellen Welt des Internet kennen wir nicht einmal mehr die Datenautobahnen, über die unsere Mails, Videos oder Kommentare geschickt werden. Was im Jahr 1969 mit vier Internet-Knotenrechnern begann, ist zu einem Rechnerverbund von mehreren Milliarden Computern gewachsen. Das Internet, in den 1990er Jahren noch als globales Dorf bezeichnet, gilt inzwischen als bedrohliche Metropolis.
    Das Netz für Hooligans
    "Es gibt in der IT-Gemeinde immer mehr Platz für Hooligans. Das Leben in der Computer-Gemeinde wird einfach nicht gut reguliert. Ich bin bestürzt, dass in der modernen IT-Welt die Architektur, die Regeln nicht für die Guten, die helle Seite, sondern für die dunkle Seite des Lebens arbeitet. Das Leben in der IT-Gemeinde geht den falschen Weg."
    Eugene Kaspersky ist Gründer eines Sicherheitsunternehmens, das Antiviren- und andere Schutzsoftware herstellt. Wie Kaspersky meinen viele Computer-Nutzer, dass sich das Internet in eine falsche Richtung entwickelt. Sie werden von der National Security Agency und anderen Geheimdiensten – auch deutschen – überwacht. Sie wissen, dass ihre Suchanfragen auf Google, ihre Kurznachrichten auf Twitter, ihre Posts auf Facebook ausgewertet werden. Geschäfte jeglicher Art haben das Internet undurchsichtig werden lassen.
    Kaspersky: "Es tummeln sich immer mehr Leute im Internet, die eben mal nicht nur einen Virus schreiben, um ihre Programmierkenntnisse zu testen, um auf sich aufmerksam zu machen, um ein bisschen Krach zu schlagen im Netz. Diese Leute verfolgen andere Ziele. Sie verschaffen sich Zugang zu Ihren persönlichen Daten. Und sie lassen Ihr Netzwerk für sich arbeiten. Ich habe da wirklich Angst."
    Tatsächlich wissen viele Menschen nicht, wie sie ihr Smartphone wirkungsvoll vor den Attacken der Online-Kriminellen schützen sollen. Zu kompliziert, lautet das einhellige Urteil. 80 Prozent der Smartphone-Nutzer hierzulande haben keinerlei Schutzsoftware auf ihrem Gerät installiert. Sie sind Virenangriffen und dem Abphischen von Kontendaten ausgeliefert. Satte 95 Prozent der Bundesbürger verschlüsseln vertrauliche Mails und andere geheime Dokumente nicht. Welche Daten aus sozialen Netzwerken in sogenannte Big-Data-Analyse einfließen, um Verhaltensprofile von Kunden zu erstellen und neue Kunden finden zu können, wissen die meisten ebenfalls nicht. Immer mehr Netznutzer befällt ein diffuses Gefühl des Ausgeliefertseins, befürchten, die Kontrolle und ihre Souveränität zu verlieren. Der Computerwissenschaftler Professor Hartmut Pohl von der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg sieht das so.
    "Die Technik wird nicht vollständig durchschaut, daraus folgend werden auch die Risiken überhaupt nicht gesehen. Das ist eine Illusion, die wir hatten, gebe ich ja zu, aber das Internet hat nichts mit Freiheit zu tun, das Internet hat nichts mit Privatheit zu tun. Es ist öffentlicher Raum, auf den jeder zugreifen kann. Es ist ja nicht die NSA-Affäre, sondern es ist die Affäre der Geheimdienste, die uns alle überwachen, das sind auch die Dienste der EU-Mitgliedstaaten, also unsere Partner in Europa. Es ist insbesondere die organisierte Kriminalität, die mithört, mitliest und auch in Ihren, machen wir uns nichts vor, in Ihren Computer eindringt und schaut, was sich verwerten lässt."
    Ingenieure haben mehr als 4000 technische Standards verabschiedet, mit denen sichergestellt wird, dass Web-Seiten aufgerufen werden können, eine Mail beim Empfänger eintrifft oder eine Radio-Sendung heruntergeladen werden kann. Die Strukturen sind derart komplex, dass auch Spezialisten der Vereinten Nationen überfordert sind. Doch wenn selbst Experten gelegentlich vor dem Moloch Internet kapitulieren - welche Chance bleibt dann noch für den ganz normalen Bürger? Wer soll das weltweite Geflecht gestalten, sodass Nutzer sich zurechtfinden und das Netz beherrschen, statt vom Netz beherrscht zu werden?
    Diese Frage treibt den Netinator um. Die Kölner kennen ihn aus der Zeitung. Angetan mit Superman-Kostüm und einem Datennetz kümmert er sich um die überforderten Nutzer. Sein Büro hat der Netinator im ehrwürdigen Gebäude der Alten Universität in der Claudiusstraße. Und wer dieses Büro finden will, muss sich auskennen, denn die Gänge in der Alten Universität sind so verwinkelt wie die Datenpfade im Internet
    "Grüße Sie, wo geht es denn hier zum Netinator?"
    "Ja, dann kommen Sie mal mit. Der sitzt hier hinter dieser Tür. Bitte schön!"
    "Hier soll es also in der Forschungsstelle für Medienrecht an der Fachhochschule in Köln einen Netinator geben. Aber vor mir steht mit Jeans und einem Hemd ein ganz normaler Mensch, Herr Professor Schwartmann: Sind Sie der Netinator?"
    "Absolut."
    Rolf Schwartmann, 49 Jahre alt, Professor für Medienrecht an der Fachhochschule Köln, will, dass die Menschen bestimmen, was im Netz passiert, und nicht das Netz bestimmt, was die Menschen tun dürfen. Deshalb ist er der Netinator geworden, musste er zum Netinator werden.
    "Weil ich glaube, dass das Bewusstsein der Menschen für die Möglichkeiten und Gefahren des Internets sich nicht vermitteln lässt über professorales Vorgehen, sondern darüber, dass man mit den Leuten so redet, wie sie einen verstehen. Und das kann ich gut tun, indem ich die Sprache der Leute spreche. Das ist ein bisschen wie die Volksbühne von Brecht."
    Miese Post vom Schweinekönig
    Der Netinator hilft, gibt Rat, zum Beispiel im Fall „Kindergeburtstag auf Facebook".
    "Wenn man sich überlegt, dass Kinder bis zu sechs Jahren überhaupt keine Rechtsgeschäfte vornehmen können und danach immer die Mama und der Papa zustimmen müssen, dann ist das ganz atypisch, dass sie in sozialen Netzwerken auf einmal Dinge tun, die natürlich erhebliche rechtliche Relevanz haben. Und da muss man sich die Frage stellen, sollen die Kinder da rein?"
    Der Netinator ist ein Aufklärer, ein digitaler Aufklärer. Sein Motto: Jeder kann sich im Netz zurechtfinden, aber er muss wissen, wie das geht.
    "Ich glaube, dass die Leute den Netinator sympathisch finden und dass ihnen damit geholfen ist, wenn einer mit der Frau Schmitz aus Nippes so redet, wie sie das brauchen kann. Und die Frau Schmitz aus Nippes, vor der ich hohe Achtung habe, ist die Person, die die Information benötigt."
    Zum Beispiel, um eingreifen zu können, wenn die Kinder Mails vom Schweinekönig bekommen. Das ist so ein anderer Fall, der dem Netinator so manche Sympathie eingebracht hat.
    "Zumindest mal ist der Netinator frech genug, mal drauf hinzuweisen, dass, wenn Kinder auf dem Handy Post vom Schweinekönig kriegen - das ist nämlich eine Spielfigur aus Angry Birds, die Kinder unter Drohungen und unter Appell an ihre Ehre ans Spielen holt - da kann er sagen: 'Pass mal auf, Du Schweinekönig, das, was Du hier veranstaltest, das ist ein Unding, und ich schmeiße Dich jetzt vom Handy runter, weil Du mein Kind an meiner Erziehungskompetenz vorbei ins Netz holst.' Und wenn Du in der körperlichen Welt, auf dem Spielplatz, mein Kind auf diese hinterlistige Weise ansprechen würdest, dann würde ich Dir die Uhr stellen, dass Du nicht mehr weißt, wo Du stehst und im Netz mache ich das jetzt auch."
    Überforderte Nutzer
    "Das Internet ist so komplex, so kompliziert, und viele Nutzer sind ja auch nicht damit aufgewachsen, das heißt, die haben große Probleme, mit dem Internet umzugehen. Das heißt aber auch, dass sie große Probleme haben, neue Sicherheitsvorkehrungen zu installieren. Und ich glaube, das ist ein ganz wesentlicher Punkt. Idealerweise müsste das sehr viel einfacher werden und auch vermittelt werden von der Politik, von Bundesinstitutionen, von den Medien, dass es einfach ist und wie man es macht, auf seinem Computer Schutzvorkehrungen zu installieren."
    Beate Neuss ist Politikwissenschaftlerin. An der Technischen Universität Chemnitz hat sie die Strukturen des Internet genauer untersucht und kommt zu dem Ergebnis: Der Nutzer ist weder über die technischen Zusammenhänge des Netzes informiert. Noch weiß er um die politischen Prozesse und regelrechten Kämpfe, die um die Vorherrschaft im Netz ausgefochten werden. Regierungen zahlreicher Staaten wollen das Netz kontrollieren, um genau herauszufinden, was ihre Bürger denken und wollen. Aus dem Internet ist ein mächtiger Überwachungs- und Manipulationsapparat geworden. Wer im World Wide Web surft, Mails schreibt, Videos anschaut, Musikstücke herunterlädt, dessen Tun wird genau protokolliert. Aus diesem Tun wird sein künftiges Verhalten mit Wahrscheinlichkeitsrechnungen prognostiziert. Wer mit einer Suchmaschine nach Artikeln, Videos oder Blogbeiträgen sucht, bekommt die Beiträge und Fundstellen angezeigt, die seinem berechneten Persönlichkeitsprofil entsprechen. Und die Nachrichtendienste haben auf diese Persönlichkeitsprofile Zugriff, vermutlich sogar Einfluss. Der Einzelne steht dem Überwachungs- und Manipulationsgeflecht hilflos gegenüber. Und auch sein Staat schützt ihn nicht mehr.
    "Es hat sich mit Sicherheit etwas im Bewusstsein geändert, sowohl auf der politischen Ebene, wie auf der militärisch-industriellen Ebene. Wie bewerte ich das? Snowdens Veröffentlichungen haben sicherlich gezeigt, dass unser Begriff von Privatheit nicht mehr der Realität entspricht und dass die staatliche Unversehrtheit sehr viel gefährdeter ist, als wir das bisher gesehen haben."
    Staatliche Souveränität wird durchlöchert
    Durch die NSA-Affäre ist es offenbar geworden: Die staatliche Souveränität und Unversehrtheit ist gefährdet, die Integrität seiner Bürger ist hochgradig bedroht durch die Entwicklungen im Netz, besser gesagt, durch den Machtkampf, der zwischen Staaten und ihren oftmals militärischen Geheimdiensten im Netz ausgetragen wird. Vor ziemlich genau 100 Jahren wurde das Hegemoniestreben der Staaten auf den Schlachtfeldern und in den Schützengräben ausgetragen. Heute ist das Schlachtfeld digital. Der Server ist zum modernen Schützengraben geworden. Deshalb wollen die Vereinten Nationen ihren Einfluss in der Netzpolitik ausbauen, um ihrem Friedensauftrag weiterhin nachkommen zu können. Immerhin haben 150 Staaten dieser Welt öffentlich erklärt, dass sie digitale Waffen haben und ihre Cyberwaffen im Falle eines militärischen Konfliktes auch im Internet einsetzen würden. Wirtschaftsverbände wollen das Interesse ihrer Mitglieder durchsetzen, im Netz möglichst unkontrolliert Geld verdienen zu können. Sie alle ringen um die Macht im Internet. Und sie fechten diese Kämpfe weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit, unbemerkt vom Netz-Anwender aus.
    Beate Neuss: "Es gibt wahrscheinlich zwei Aspekte. Der erste Aspekt ist, man möchte die Bürger nicht übermäßig beunruhigen, solange es nicht wirklich virulent ist. Und der zweite wahrscheinlich ebenso wesentliche Aspekt ist, dass Politiker, politische Instanzen, Verwaltungen genügend Probleme mit dem haben, was bei Ihnen täglich auf dem Tisch liegt. Und wenn sich jetzt ein völlig neues Feld auftut, für das man noch keine Lösungen hat, für das man noch keine Abteilungen eingerichtet hat, dann gibt es den natürlichen Abwehrreflex."
    Bewusst beiseite geschoben wurde, welche Risiken sich durch digitale Waffen, logische Bomben und Datenpäckchen als Streumunition ergeben. Über Tage hinweg durch Überlastangriffe lahm gelegte Banken in Estland, durch logische Bomben verursachte Explosionen von Pipelines in Russland oder durch digitale Waffen wie Stuxnet paralysierte kerntechnische Anlagen wie im Iran waren entweder zu weit weg oder wurden im Ergebnis gut geheißen. Bewusst verhindert wurde die öffentliche Diskussion über den entstandenen nachrichtendienstlich-industriellen Komplex, der diese digitalen Waffen und Software für die Datenspionage entwickelte, für filigran ausgearbeitete Überwachungs- und Angriffsszenarien große Budgets beanspruchte und zugewiesen bekam.
    Neuss: "Das Problem ist nicht früh genug erkannt worden, weil man eben nur den Teil des Eisbergs sieht, der über dem Wasser ist. Und der unter dem Wasser ist größer und nicht wahrgenommen worden. Durch die NSA haben wir die allgemeine öffentliche Wahrnehmung dieses Problems. Das zwingt dann auch die Politiker, es wahrzunehmen. Das ist der positive Aspekt an der NSA-Affäre. Insofern sind die Politiker jetzt aufgefordert und gezwungen, sich damit zu beschäftigen."
    Sprecherin: Zum roten Ochsen – der Neonschriftzug spiegelt sich in der Pfütze. Der Asphalt dampft. Gelbes Licht fällt aus der soeben geöffneten Kneipentür. Drei Bewaffnete in Phantasieuniformen treten auf die Straße. Trotz der frühsommerlichen Hitze tragen sie schwarze Sturmmasken, verbergen damit ihre Gesichter. Mit einem knappen Gruß verabschieden sie sich vom Anführer ihrer Einheit, deren Befehlsstand in der Kneipe Quartier genommen hat. Während eine Bande ganz in Schwarz gekleideter Jugendlicher Parolen grölend an Ihnen vorbei zieht, entsichern sie ihre AK47-Sturmgewehre und laufen im Zickzack auf das sechzehnstöckige Hochhaus gegenüber zu. Erst gestern wurde ihr Befehlsstand im Roten Ochsen aus dem zwölften Stock des von seinen Bewohnern längst verlassenen Hochhauses unter Feuer genommen.
    Die Straßenschluchten des Internet, die Datenautobahnen mit ihren Glasfaserkabeln, Satelliten und Netzknotenrechnern drohen zum unbeherrschbaren Gebiet zu werden. Geheime Cyberkrieger der chinesischen Volksbefreiungsarmee liefern sich mit dem amerikanischen Pentagon unterstehenden digitalen Elitekriegern der NSA kleinere Netz-Scharmützel. Unterstützt werden sie dabei von privaten Hilfstruppen, die für unterschiedliche Sicherheitsbehörden als Cybersöldner arbeiten. Es gibt in diesem Netzkrieg keinen klaren Frontverlauf. Programmierer des nordkoreanischen Lab 110 beteiligen sich genauso wie israelische oder britische Cybertruppen. Auch die organisierte Kriminalität profitiert. Sie liefert Teile von digitalen Angriffswaffen und leistet Hilfsdienste: für Nachrichtendienst und Cybertruppen, aber auch für Versicherungen und Kreditauskunfteien.
    Bessere Regulierung wird verlangt
    Eugene Kaspersky: "Das Leben in der Computer-Gemeinde wird einfach nicht mehr gut reguliert."
    Der russische Sicherheitsexperte Eugene Kaspersky fordert immer wieder dazu auf, für eine bessere Regulierung zu sorgen. Diese Forderung unterstützen auch Wissenschaftler wie Professor Rainer Böhm von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
    "Man kann durchaus darüber nachdenken, die IT-Landschaft grundsätzlich neu zu gestalten – mit mehr Fokus auf Sicherheit und Nutzer-Selbstbestimmung, Selbstkontrollierbarkeit auch beim Datenschutz. Ideen dafür existieren seit den 1990er-Jahren in der Forschungsgemeinde. Allerdings sind die Marktkräfte derart gestaltet, dass es sehr schwierig ist, diesen Zug noch einmal in die andere Richtung zu bewegen."
    Wie eine Änderung herbeigeführt werden könnte, das ist umstritten. Nachdem Edward Snowden vor einem Jahr die umfassende Überwachung durch Geheimdienste gemeinsam mit dem Journalisten Glenn Greenwald und der Dokumentarfilmerin Laura Poitras öffentlich gemacht hatte, tauchte sogar der Ruf auf, das Internet einfach abzuschalten. Dahinter verbarg sich die Idee, ein neues, von staatlichen Zwängen und wirtschaftlichen Einflüssen freies alternatives Netz aufzubauen. Computerwissenschaftler Hartmut Pohl hält von dieser Lösung nicht viel. Sein Vorschlag geht in eine andere Richtung.
    "Also, ich will nicht empfehlen das Internet abzuschalten. Das wäre wirklichkeitsfremd. Aber in die Richtung, so sparsam wie möglich mit den Daten zu sein, eine andere Lösung gibt es da aus meiner Sicht nicht."
    Datensparsamkeit ist eine alte Forderung der Datenschützer. Allein, das hilft nur wenig, um aus dem Moloch Internet wieder einen lebenswerten digitalen Ort entstehen zu lassen. Der Vorschlag von Netinator und Juraprofessor Rolf Schwartmann hört sich ähnlich an.
    "Sie müssen nur einen Umgang den Leuten mit dem Internet nahe bringen, der ihnen es erlaubt, sich darin so verantwortungsvoll wie möglich zu verhalten. Das haben wir bei der Schwerkraft auch lernen müssen und beim Netz müssen wir es genauso."
    Sicherheitslücken schließen
    Organisierte Kriminalität, Geheimdienste, Cybermilitärs, die Sicherheits- und Überwachungsindustrie, nicht zu vergessen die Datensammler und Datenauswerter, sie alle sind am Moloch Internet hochgradig interessiert, weil dieser Moloch es ihnen erlaubt, viel Geld zu verdienen, und Macht auszuüben. Der Computerwissenschaftler Hartmut Pohl sieht deshalb nur einen Weg, das zu ändern.
    "Der Kern des Themas sind zu Grunde liegenden Sicherheitslücken. Es gibt keinen Angriff, der nicht eine Sicherheitslücke ausnutzt. Keinen! Das heißt wir müssen die Sicherheitslücken kennen lernen, die mit den Angriffen ausgenutzt werden und über die angegriffen wird."
    Die Pflicht zur Veröffentlichung von Sicherheitslücken könnte tatsächlich den gesetzlosen Zustand im Netz weitgehend beenden. Doch wer soll diese Pflicht durchsetzen?
    Nach den Enthüllungen von Edward Snowden verlangten Internet-Provider und Politiker in Europa den Aufbau eines europäischen Internet, das den innereuropäischen Datenverkehr nur noch über europäische Knotenrechner und Router leiten sollte. Auch Staaten wie China, Russland oder der Iran diskutierten eine Nationalisierung. Die Internet-Gremien bangten schon um den Bestand des weltweiten Netzes und warben im Gegenzug um mehr Unabhängigkeit und Internationalisierung. Mitten in diese Gemengelage platzte Ende März die Ankündigung der amerikanischen Regierung, die Oberaufsicht über das Internet aufzugeben. Bis September 2015 soll nun eine andere Lösung gefunden werden.
    Bisher sitzt die Netzregierung Icann in Washington. Viele Staaten, Gremien der Vereinten Nationen und zivilgesellschaftliche Gruppen hatten die USA immer wieder aufgefordert, endlich die Kontrolle über die Internetverwaltung Icann abzugeben, zuletzt im sogenannten Montevideo-Statement. Netzdiplomat Paul Fehlinger vom Internet and Jurisdiction Project:
    "Erst einmal muss man natürlich sagen, dass es eine sehr große symbolische Wirkkraft hat, diese Ankündigung. Es geht um die Verträge zwischen dem US-Handelsministerium, genauer gesagt der nationalen Telekommunikations- und Informationsbehörde mit Icann, um die so genannte Iana-Funktion auszuüben. Das ist englisch für die Internet Assigned Numbers Authority, und das bedeutet so viel wie die Internet-Behörde für die Zuteilung von Nummern. Das muss man sich so vorstellen: das ist eine Art notarische Funktion, die von dem US-Handelsministerium ausgeführt wird, um Domänen-Namen, wie zum Beispiel die Top-Level-Domains .de,.fr,.com, im Internet verschiedenen Adressen zuzuweisen. Das ist quasi die höchste hierarchische Instanz in unserem Namensystem des Internet."
    Diese Internet-Adressverwaltung stellt überhaupt erst sicher, dass zum Beispiel eine E-Mail beim richtigen Empfänger mit der korrekten Internet-Protokolladresse landet, dass Anwender auf Web-Seiten surfen oder sich auf sozialen Plattformen, wie Facebook oder Twitter austauschen können.
    "Lange Zeit war das ein großes Tabu, darüber zu reden. Es hat sehr viele internationale Spannungen gegeben, dass diese Funktion im Domänennamen-Bereich immer noch durch die historische Entwicklung des Internets in den Vereinigten Staaten diesen US-Anker hat. Und nun kommt es natürlich in eine große Bewegung, ein großer internationaler Prozess wird jetzt auf die Beine gestellt, um zu sehen, wie man das von dem US-Handelsministerium lösen kann."
    Machtpoker um die Aufsicht
    Ende März auf dem Internationalen Treffen der Internetverwaltung Icann in Singapur wurde ausgelotet, auf welche Weise denn ein transnationales Gremium geschaffen werden könnte. So könnte etwa das jährlich stattfindende Internet Governance Forum zu einer Art internationalem Netz-Parlament ausgebaut werden, das der Icann Vorgaben macht und sie auch kontrolliert. Bisher haben hier mehr als 200 Regierungen das Sagen, die sich einmal jährlich treffen. Sie könnten durch direkt gewählte Netzabgeordnete aus allen fünf Kontinenten ersetzt werden. Das Netzparlament als oberstes transnationales Internet-Gremium sollte nicht nur die Internetverwaltung Icann kontrollieren, sondern auch über alle technischen Standards und Durchführungsbestimmungen entscheiden. Würde das Netzparlament etwa eine Art Sicherheitsbüro einrichten, an das alle auftauchenden Sicherheitslücken gemeldet werden müssten, die dann von Mitarbeitern des Büros schnellstens geschlossen würden, hätten Geheimdienste und Cybermilitärs keine Chance mehr, ihre Spionagewerkzeuge und digitalen Angriffswaffen erfolgreich einzusetzen. Netzhooligans könnten keine Überlastangriffe auf ihre weltanschaulichen Gegner mehr fahren. Und selbst Google könnte nicht mehr beliebig Daten erheben. Doch all das bleibt Zukunftsmusik. Denn die Ausbaupläne für das IGF stoßen auf Widerstand. Unter anderem zahlreiche europäische Staaten, allen voran Großbritannien wollen einen solchen Umbau nicht mittragen. Netzdiplomat Paul Fehlinger.
    "Eine Sache, die man beim IGF in Betracht ziehen muss, ist, dass wir nicht wissen, wie nach 2015 und in welcher Form es den IGF weiterhin geben wird. 2015 wird es den so genannten WIC+10-Event geben. Das ist das Event zehn Jahre nach dem UN Gipfel für die Informationsgesellschaft, und dieser Gipfel wird erneut über das Mandat des IGF entscheiden."
    Ob es das Internet Governance Forum nach 2015 überhaupt noch geben wird, ist tatsächlich sehr fraglich. Nicht nur einzelne Staaten möchten es am liebsten abschaffen, um mehr einzelstaatliche Kontrolle über das Netz ausüben zu können. Auch die Internationale Fernmeldevereinigung, abgekürzt ITU, möchte das Internet Governance Forum am liebsten abschaffen. Denn die ITU will selbst gern die Oberaufsicht über die Icann übernehmen und begründet dies mit ihrem Status als Organisation der Vereinten Nationen. Gegen diese Lösung, nämlich die Vereinten Nationen als oberste Internet-Instanz, hatten sich auch Russland, China, Saudi-Arabien, Kuba, Iran und zum Beispiel die Türkei lange gewehrt. Auf der Netmundial-Konferenz in Sao Paulo aber revidierten sie diese Position zum großen Erstaunen aller Netzexperten plötzlich grundlegend. Der Deal: Besagte Länder treten für eine internationale Netzverwaltung durch die ITU ein, im Gegenzug tritt die ITU für weitgehende Kontroll- und Überwachungsmöglichkeiten des Netzes durch einzelne Staaten ein. Das wurde auf der Netmundial-Konferenz heftig diskutiert. Paul Fehlinger.
    "Wird es eine UN-Lösung geben? Auch dort sind die Vereinigten Staaten sehr, sehr klar. Explizit sagen sie, dass die NTIA nicht akzeptieren wird, dass die jetzige Rolle, die sie in dieser Iana-Funktion hat, von irgendeiner Initiative oder von irgendeiner Struktur ersetzt wird, die entweder von einer Regierung geleitet ist oder eine zwischenstaatliche, also eine multilaterale Organisation ist. Das schließt automatisch jegliche UN-oder ITU-Regulierung aus."
    Der Machtpoker geht also weiter. Wie wird die Oberaufsicht über die Internetverwaltung Icann und damit die Internetverwaltung selbst ab 2015 strukturiert sein? Von dieser Entscheidung hängt ab, ob die Internetstrukturen künftig transparenter und einfacher sein werden, oder ob der Moloch Internet noch undurchsichtiger wird. Netzdiplomat Paul Fehlinger fordert ein einfaches Vertragswerk, um die Verhältnisse im Internet neu zu regeln, eine Art Westfälischen Frieden, der 1648 immerhin den 30jährigen Krieg beendet hat. Im Internet soll er für einen Neuanfang sorgen, mit dem die Souveränität des Einzelnen, aber auch der Staaten geschützt wird, das Internet wieder beherrschbar und für den einzelnen handhabbar wird. Paul Fehlinger.
    "Warum wir einen neuen Westfälischen Frieden im Internet brauchen, ist der Fakt, dass das Internet grenzüberschreitend ist. Das Internet ist nicht international, also nicht zwischen Nationen, zwischen verschiedenen Souveränitäten, sondern das Internet durchschreitet diese Souveränitäten, das Internet an sich kennt ja keine Grenzen. Insofern ist das Internet transnational. Und wir brauchen, wenn wir das beibehalten wollen, und das Internet weiterhin als globale und transnationale Struktur haben wollen, brauchen wir Mechanismen, dass trotzdem Staaten Souveränität im Internet ausüben können, ohne das Internet zu refragmentieren in nationale Segmente. Und das ist diese Art neuen Westfälischen Friedens, den wir für das 21. Jahrhundert im Cyberspace brauchen."
    Die Suche nach einer neuen Netzregierung bietet Chancen, wenn die Souveränität von Staaten und die Souveränität der Bürger im Netz gleichermaßen garantiert werden. Der Moloch Internet kann zwar nicht mehr zum globalen Dorf werden, aber zur virtuellen Metropole mit überschaubaren und lebenswerten Stadtteilen und Quartieren. Professor Rolf Schwartmann.
    "Das Internet als Phänomen ist viel zu komplex, aber die einzelnen Erscheinungsformen des Internet, die sind es doch nicht."
    Ixquick statt Google, posteo statt gmail – Es gibt alternative Dienste im Netz, die die Souveränität der Nutzer nicht nur respektieren, sondern stärken. Aber der Nutzer muss sie kennen. Hier sehen der Internet-Sicherheitsforscher Rainer Böhme und viele Netzspezialisten Schulen, Medien und Einrichtungen der Erwachsenenbildung in der Pflicht, die aber bisher ihrem digitalen Bildungsauftrag gar nicht oder nur vollkommen unzureichend nachkommen. Auch die Politik ist in der Pflicht, endlich den gesellschaftlichen Diskurs anzustoßen, welche Netzdienste, welche Erscheinungsformen des Internet diese Gesellschaft billigt und welche sie ablehnt. Doch bisher geht die Politik dieser Diskussion einfach aus dem Weg. Und auf globaler Ebene muss dafür eine neue Internetverwaltung her, die aufräumt bei den unüberschaubaren 4000 Netzstandards. Eine transnationale Aufsicht über diese Internetverwaltung, in der einzelstaatliche Regierungen, zivilgesellschaftliche Gruppen und Vertreter internationaler Organisationen gleichberechtigt zusammenarbeiten. Doch das alles gelingt nur, wenn Internet-Nutzer und Bürger ihre Interessen im Netz und mit dem Netz machtvoll durchsetzen.