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Interview

DENIS SCHECK: Julien Green, an den Anfang unseres Gesprächs möchte ich eine Metapher setzen, ein Bild, das mir sowohl wesentliche Aspekte Ihres Lebens als auch Ihrer Entwicklung als Schriftsteller zu beschreiben scheint: das Bild von Julien Green dem Reisenden, dem Entdeckers, auch dem Pilger. Mit Ausnahme einiger Jahre während Ihres Studiums in Virginia und während des Zweiten Weltkriegs haben Sie nahezu Ihr gesamtes Leben in Paris verbracht. Jetzt aber wollen Sie Ihrer Wahlheimat den Rücken kehren und nach Italien ziehen. Warum?

01.01.1980
    JULIEN GREEN: Wissen Sie, eigentlich habe ich überall in Europa gelebt. Ich war sehr oft in Italien, habe dieses Land immer geliebt und möchte mich nun dort niederlassen - falls mir das unter den gegenwärtigen Umständen je gelingen wird. Überall explodieren Bomben, es ist eine schreckliche Zeit. Schon allein des Klimas wegen möchte ich nach Italien, die Luft ist dort besser. So liegen die Dinge im Moment.

    SCHECK: Aber werden Sie die Stadt, die Sie in Ihren Romanen und Ihren Tagebüchern immer wieder beschrieben haben, nicht vermissen?

    GREEN: Natürlich wird mir Paris in gewisser Weise fehlen. Aber eigentlich fehlt es mir schon jetzt, denn ich vermisse das alte Paris. Die Stadt hat sich seit 1900 ungeheuer verändert, mich beschleicht da mitunter Nostalgie für das Paris meiner Kindheit, für die Stadt, wie ich sie als Junge erlebt habe. Dieses Paris war wunderbar - so ruhig, so gelassen. Es kommt mir in jeder Hinsicht realer und angenehmer vor als das heutige Paris, das sich ungeheuer verändert hat. Es gibt jedoch auch ein Paris, das ich immer vermissen werde und das sich nie verändert. Der Place de la Concorde zum Beispiel, das ist eines der großartigsten architektonischen Ensembles, die ich kenne. Ich will Ihnen nun nicht sämtliche Schönheiten von Paris aufzählen - das wäre denn doch zu ermüdend -, aber ich glaube, es wird deutlich, von welchem Paris ich spreche. Für die Stadt, in der ich heute wohne, habe ich in der Tat nichts übrig. Aber das ist ein leidiges Thema. Ich hasse Politik und will in diese Diskussion gar nicht erst hineingezogen werden. Außerdem bin ich Amerikaner. Ich darf ich nie vergessen, daß ich kein Franzose bin, sondern Amerikaner.

    SCHECK: In Ihrer Autobiographie schreiben Sie, Ihre Mutter habe in ihrem Pariser Salon eine Südstaatenfahne wie eine Ikone zur Schau gestellt und von sich und ihrer Familie immer gern als "Rebellen" gesprochen. Verstehen Sie sich als Südstaaten-Autor?

    GREEN: Ich bin Südstaatler. Wenn man uns Rebellen nennen will, na gut, dann sind wir eben Rebellen. Aber ich habe einen amerikanischen Paß, ich bin Amerikaner, damit muß man sich abfinden. Und ich bin sehr froh, diesen amerikanischen Paß zu haben - damit kommt man überall hin, überall. Er ist sehr nützlich. Schon mein Vater hat mir eingeschärft: Trenn dich nie von deinem amerikanischen Paß, du mußt diesen Paß immer bei dir haben. Er wußte, wovon er sprach. Mit einem amerikanischen Paß kommt man überall hin, in Europa und sonstwo auf der Welt.

    SCHECK: Haben Sie auch als Schriftsteller sozusagen Ihren amerikanischen Paß behalten - mit anderen Worten, würden Sie Ihr Werk eher der amerikanischen oder der europäischen, der französischen Literatur zurechnen?

    GREEN: Ich möchte mich da überhaupt nicht einordnen. Ich glaube, daß ich in meiner Art einzigartig bin, und zwar weil ich eine völlig atypische Schreibtechnik habe. Anfang der 20er Jahre gab es Paris die literarische Bewegung der Surrealisten. Einer der Hauptvertreter des Surrealismus war André Breton. Breton empfand große Bewunderung für mich, denn er hielt mich für den einzig wahren Surrealisten. Das hing mit dem zusammen, was er "automatisches Schreiben" nannte. Er machte aus mir eine Art Galionsfigur dieser Bewegung. "Julien Green besitzt dieses Talent", erklärte er, und außer mir hatte es offenbar keiner. Breton selbst versuchte sich an dieser Schreibtechnik, scheiterte aber - wenn auch auf sehr hohem Niveau. Breton war ein blitzgescheiter Mann, dieses besondere Talent des automatischen Schreibens besaß er jedoch nicht. Doch worin besteht dieses Talent nun eigentlich? Das läßt sich sehr schwer in Worte fassen. Breton glaubte jedenfalls, dieses Talent in meinen Texten zu entdecken. Konkret funktionierte bei mir das so: Ich setzte mich an meinen Tisch und begann zu schreiben, bis eine Seite voll war. Das ging fast wie von selbst, die Worte wurden mir in gewisser Weise geschenkt. Bitte verstehen Sie das nicht falsch - natürlich habe ich sehr sorgfältig nach dem richtigen Ausdruck gesucht, aber gleichzeitig war es eben auch ein Geschenk. Ich mußte mir keine Sorgen darum machen, denn ich war mir sicher, daß sich die richtigen Worte finden würden. Und wenn die Seite dann voll war, hörte ich mit dem Gedanken auf: Soviel für heute, morgen geht´s weiter. Doch wie würde es morgen weitergehen? Ich hatte offen gestanden keine Ahnung. Ich weiß nicht, woher die Worte kommen, in gewisser Weise werden sie mir von meinem Unterbewußtsein eingegeben. Dort ist der Ursprung der Worte. So entstehen meine Bücher: ich schreibe Seite um Seite, bis ich schließlich auf der letzten Seite ankomme. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: Als ich die erste Seite meines Romans "Adrienne Mesurat" zu schreiben begann, besaß ich keinerlei Vorstellung davon, wie der Roman aussehen würde. Erst ganz am Ende fand ich heraus, daß meine Heldin verrückt war. Sie können sich vorstellen, wie überrascht ich da war. Auf diese Weise wurde mir das ganze Buch geschenkt. Dennoch war es keine leichte Arbeit, es galt, die Worte mit großer Sorgfalt zu wählen - und dennoch wurden sie mir quasi geschenkt, sie kamen aus dem Unterbewußtsein. Auch andere Schriftsteller haben dieses Talent besessen. Zum Beispiel der amerikanische Autor Nathaniel Hawthorne. Hawthorne war ein ziemlich komischer Kauz. Er pflegte sich in einem Zimmer einzuschließen, um in Ruhe nachzudenken und zu schreiben. Es hieß, er habe `von Visionen durchdrungen` gelebt. Auch ich habe mich immer gern abgesondert. Ich weiß nicht, ob mein Leben 'von Visionen durchdrungen' war, aber tatsächlich hatte ich Erscheinungen. Ich habe bestimmte Dinge gesehen, denen ich Ausdruck verleihen wollte. Daran war gar nichts Dramatisches, es lief wirklich automatisch ab. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Auch Franz Kafka ist ein gutes Beispiel für automatisches Schreiben. Allerdings empfand er dies als negativ, denn es brachte ihn mit etwas in seinem Inneren in Berührung, das nicht gut war. Und davor hatte er Angst. Ich hatte dieses Problem nicht, denn ich besaß schlicht und einfach den Willen zum Schreiben - und den Willen, mir alles zunutze zu machen, was mir geschenkt wurde.

    SCHECK: "Meine Bücher schreibt ein anderer, den ich nicht kenne" - mit diesem Satz haben Sie einmal das Verhältnis zwischen Julien Green dem Menschen und Julien Green dem Schriftsteller charakterisiert. Welches Bild haben Sie nun mit 95 von diesem anderen Julien Green, der diese Bücher schreibt? Ist die Differenz zwischen Autor und Person im Lauf der Zeit größer geworden oder näheren Sie sich einander an?

    GREEN: Sie meinen, ob es da vielleicht eine Veränderung gegeben hat? Nun, sehen Sie, als ich Romane über Amerika und den Bürgerkrieg zu schreiben begann, mußte ich mich damit abfinden, daß es so etwas wie Geschichte gibt. Und mit Geschichte kann man nicht einfach so umspringen, daß man sich hinsetzt und einen Roman schreibt. Man muß sich mit der Geschichte befassen, sie beim Schreiben berücksichtigen. Allein schon insofern hat sich mein Verhältnis zum Schreiben also gewandelt, das Problem wurde dadurch noch verschärft. Aber ich möchte betonen, auch bei diesen historischen Romanen wurde mir alles geschenkt, was der reinen Phantasie entsprang - doch woher, das weiß ich nicht.

    SCHECK: Sie haben Franz Kafka erwähnt als einen Autor, der ebenfalls diese direkte Verbindung zu seinem Unterbewußtsein hatte. Von Kafka stammt die berühmte Definition, ein Buch müsse "die Axt sein für das gefrorene Meer in uns." Stimmen Sie dem zu?

    GREEN: Sie meinen, als Ziel für mein Schreiben? Kafka dachte an den Leser und die Probleme des Leser. Ich denke beim Schreiben nicht an solche Dinge. Mein Ehrgeiz konzentriert sich darauf, eine Geschichte zu schreiben, eine gute Geschichte - mehr nicht. Meine Romane behandeln keine moralischen Probleme - nein, nichts dergleichen. Ich habe darin ausgedrückt, was in mir war. Wissen Sie, manche Dinge sind so offensichtlich und so einfach, daß sie sich gar nicht in Worte kleiden lassen. Haben Sie das schon einmal bemerkt - wenn etwas ganz offensichtlich ist, wie einem dann die Worte fehlen, es zu erklären? Natürlich hatte ich moralische Probleme, und zwar wirklich riesige Probleme - bloß hatten die nichts mit meinen Romanen zu tun. Ü-ber-haupt-nichts.

    SCHECK: Sie haben aus Ihrer Homosexualität nie einen Hehl gemacht - auch nicht 1930 und davor, zu Zeiten also, als dies gesellschaftlich als nicht akzeptabel galt. Woher haben Sie den Mut dazu genommen?

    GREEN: Das war nicht bewußt. Ich hatte keine Angst ... Ich hatte einfach keine Angst. Ich wollte mich wie ein Gentleman verhalten und keine Empörung auslösen. Ich habe mich weder versteckt noch bin ich bewußt an die Öffentlichkeit gegangen. Ich habe mich einfach meinem Naturell gemäß verhalten. Mehr steckte nicht dahinter, wie sollte ich das anders erklären? Die Leute wußten, daß ich homosexuell bin, und ich wußte, daß sie es wußten - und damit basta. Man ließ mich in Frieden. Ich hatte ein sehr harmloses Buch geschrieben, es hieß "Der andere Schlaf". Dieser Roman setzte sich auf sentimentale Weise mit der Homosexualität auseinander - na ja, vielleicht kamen da auch gewisse körperliche Aspekte vor. Aber es war nichts Skandalöses an dem Buch, es war auf zurückhaltende Art gewagt ... Auf zurückhaltende Art gewagt, verstehen Sie? Mehr war da nicht. Damals hielt man es für ein überaus schockierendes Buch.

    SCHECK: Ich möchte auf die Metapher der Reise zurückkommen, der Pilgerschaft. Ihre Entwicklung als Schriftsteller war immer auch eine spirituelle, religiöse Entwicklung. 1916 sind Sie zum Katholizismus konvertiert, 1939 nach einer zeitweiligen Abkehr noch einmal, und doch haben Sie immer betont, kein "katholischer Autor" zu sein. Nun ist eine Konversion ja auch ein Aufbruch, eine Grenzüberschreitung. Welche Motive haben Sie zu diesem Aufbruch veranlaßt und wie denken Sie heute darüber?

    GREEN: Meine Konversion verlief sehr eigenartig. Meine Mutter war Protestantin, sie gehörte der anglikanischen Kirche an. Sie starb 1914. Sie hatte die katholische Kirche immer bewundert und wollte eigentlich Katholikin werden, gleichzeitig aber ihrer Kirche treu bleiben. Nach ihrem Tod geschah etwas sehr Seltsames. Ich betrauerte sie um so mehr, weil sie mir alles vermittelt hatte, was ich über Religion wußte, nämlich eine Liebe zu Gott und eine umfassende Kenntnis der Bibel - das hatte ich von ihr. Nach ihrem Tod war ich natürlich ungeheuer traurig. Monate vergingen, und ich war häufig allein in unserem Haus. Ich fing damals an, kleine Geschichten zu schreiben, einfach so für mich. Eines Tages im Juli 1915 hatte ich plötzlich das Gefühl, daß mir meine Mutter nahe war - nicht als Geist oder als Erscheinung, sie war einfach da. Sie führte mich gewissermaßen zu einem Schrank, in dem mein Vater seine Hemden aufbewahrte. Ich fragte: Was soll das? Was soll ich mit den Hemden meines Vaters? Aber ihre Gegenwart war immer noch zu spüren, bis ich schließlich zu dem Schrank ging und zwischen zwei Hemden ein Buch fand, das ein katholischer Bischof über die Glaubensgrundsätze der katholischen Kirche geschrieben hatte. Ich zog dieses Buch hervor, begann zu lesen und war begeistert. Hier, ging mir durch den Kopf, stehen die Antworten auf all die Fragen, die meine Mutter nie beantwortet hat. Ich las dieses Buch und beschloß also eines Tages, Katholik zu werden. Mit einem bangen Gefühl ging ich daraufhin zu meinem Vater, denn was ich ihm da sagen wollte, klang natürlich wie ausgemachter Unsinn. Dennoch erzählte ich ihm von dem Buch - daß ich es gelesen hatte, daran glaubte, was da stand, und nun Katholik werden wollte. Mein Vater antwortete: "Ist ja interessant, ich bin nämlich selber vor drei Monaten Katholik geworden." Mein Vater brachte mich dann zu einem Jesuiten, der mir alles über die katholische Kirche beibrachte. Im Juli 1916 erhielt ich zum zweiten Mal die Taufe und wurde Katholik. So war das. Ich wurde dann so etwas wie ein Fanatiker.

    SCHECK: Haben Sie sich vom Katholizismus in Ihrer intellektuellen und persönlichen Entwicklung nie behindert gefühlt?

    GREEN: Nein, denn in meinen Romanen war für meinen Katholizismus kein Platz. Das waren zwei völlig getrennte Bereiche. Das eine hatte mit dem anderen nichts zu tun, überhaupt nichts.

    SCHECK: Julien Green, wenn Sie jungen Schriftstellern, die gerade am Anfang ihrer Karriere stehen, heute einen Rat geben sollten, welcher Rat wäre das?

    GREEN: Ach, da würde ich sagen: Schreibt nicht, wenn ihr nicht das Gefühl habt, schreiben zu müssen. Wer das Gefühl hat, daß er schreiben muß, dem bleibt keine andere Wahl. Aber man soll mit der Kunst des Schreibens nicht spielen. Das hat keinen Zweck. Wer sich nicht zum Schreiben gezwungen sieht, soll Ruhe geben und sich etwas anderes einfallen lassen. Nur sehr wenige Menschen auf der Welt können ehrlich von sich behaupten, daß sie schreiben müssen, weil sie andernfalls sterben würden. So sollten sie aber empfinden. Dieses Gefühl hatten die großen russischen Schriftsteller, die ich sehr bewundere, allen voran Fjodor Dostojewskij, den König aller Romanciers.

    SCHECK: Wenn Ihnen an Ihrem Geburtstag die sprichwörtliche gute Fee erschiene und Ihnen einen Wunsch gewährte, würden Sie sich da wie Ihr Schriftstellerkollege Elias Canetti wünschen, den Tod abzuschaffen?

    Das wäre sehr gefährlich. Ich möchte gern noch ein Weilchen irgendwo leben, geruhsam und bei guter Gesundheit, aber ich will doch nicht jahrhundertelang weiterleben, wenn es mir schlecht geht. Nein, das erscheint mir nicht sehr vernünftig. Wissen Sie, alle Menschen wollen bis in alle Ewigkeit glücklich sein. Diesen Zustand nennt man das Paradies. Was ist besser als das Paradies? Können Sie sich etwas vorstellen? Selbst wenn es dort im Paradies keine nackten Frauen gibt, die einen füttern, wie John Milton sich das ausgemalt hat. Nein, Ihre Frage bereitet mir Unbehagen. Wie ist das Paradies? Wir wissen es nicht. Aber es gibt etwas nach dem Tod. Ich will Ihnen etwas verraten. In diesem Leben wurde gut für mich gesorgt. Und ich bin für alle Wohltaten dankbar, die mir bis auf den heutigen Tag erwiesen wurden. Ich weiß, daß es da eine Macht gibt, die auf mich aufgepaßt hat. Ich habe das immer gespürt. Meine Mutter hat mir als Kind gesagt, daß jemand über mich wacht, daß Gott mich behütet. Daran habe ich geglaubt. Und ich glaube auch, daß er auf uns alle aufpaßt, jedenfalls habe ich gespürt, daß er auf mich aufpaßt. Wenn Sie wissen wollen, was ich mir wirklich wünsche, dann daß er auf mich aufpaßt und auf die Leute, die ich liebe und mit denen ich zusammenlebe, auf alle Beteiligten. Das wäre er also: mein letzter Wunsch.

    Julien Green im Gespräch

    green.ram