Norman Mailer: Oswald war natürlich eine Ausnahme, aber eine für Amerika sehr bezeichnende Ausnahme. Vieles in seinem Charakter ist uramerikanisch: sein maßloser Ehrgeiz, sein Glaube an die absolute persönliche Freiheit, seine unerschütterliche Überzeugung, es ganz allein schaffen zu können. Er war ein Linker, hielt aber nichts von kollektivem Handeln, sondern setzte ganz aufs Individuum. Oswald war eine äußerst vielschichtige Persönlichkeit -so komplex wie die meisten Amerikaner im Lauf ihres Lebens werden, weil sie so wenige Wurzeln haben.
SCHECK: Für Ihre Sachbücher mit romanhaften Zügen hat sich in den USA der Begriff "faction" eingebürgert. Würden Sie auch "Oswald's Tale" so bezeichnen?
MAILER: "Faction" ist ein häßliches Wort. Ich kann diesen Begriff nicht ausstehen. Mein Buch über Oswald hat zwar einige Elemente eines Romans, aber ich zähle es nicht zur Belletristik. Dafür gibt es zwei Gründe: erstens enthält es viel journalistisches Material, das ganz auf Dokumenten beruht - KGB-Akten, Interviews, dem Bericht der Warren-Kommission und so weiter. Und zweitens trete ich in dem Buch selber auf und analysiere wie ein Rechtsanwalt oder Geheimdienstmann die Indizien. Wenn ein Autor sich mit realen Menschen und Ereignissen auseinandersetzt und selbst im Buch vorkommt, kann er es nicht mehr Belletristik nennen.
SCHECK: Früher haben Sie Ihr Interesse am Sachbuch damit begründet, daß Sie Ihr eigenes Ich zunehmend anöde. Hat Ihr Selbstüberdruß nun nachgelassen?
MAILER: Nicht mein eigenes Ich, das Erfinden ödet mich an. Alles Erfundene macht mir angst. In einem Roman muß man fortlaufend Entscheidungen über den Fortgang der Handlung treffen. Entscheidet man sich falsch, kann der Roman dadurch zerstört werden. Bei einem Sachbuch schenkt einem dagegen Gott die Handlung. Und Gott schreibt bessere Romane als jeder Romancier. Angenommen, das Attentat in Dallas wäre nie geschehen und jemand würde sich einen Roman über Oswald ausdenken - was für ein großartiger Roman wäre das! Welch außergewöhnliche Ahnung der Komplexität würde so ein Roman vermitteln, wenn man das alles erfunden hätte. So aber hat Gott mir die Handlung vorgegeben, oder der Teufel - oder vielleicht beide als Autorenteam.
SCHECK: War für Sie Oswald ein Einzeltäter oder Handlanger eines großen Komplotts?
MAILER: Nachdem Oswald erschossen wurde, war ich wie die meisten Amerikaner davon überzeugt, daß er unmöglich auf eigene Faust gehandelt haben konnte. Jetzt habe ich meine Meinung geändert. Ich bin immer noch nicht restlos davon überzeugt, ob Oswald der einzige Täter war. Aber heute weiß ich, daß es ihm zuzutrauen war. Das Attentat entsprach seinem Charakter - er war in der Lage dazu, er hatte das Motiv und die Gelegenheit.
SCHECK: Aber hat er es auch wirklich getan?
MAILER: Amerikaner haben eine Vorliebe, sich in prozentualen Wahrscheinlichkeiten auszudrücken. Für mich steht zu 75 Prozent fest, daß er ein Einzeltäter war. Aber es bleiben 25 Prozent voller Fragen.
SCHECK: Es gibt inzwischen über 2000 Bücher über Oswald und das Kennedy-Attentat. Warum fügen Sie diesem Berg aus Fakten und Spekulationen noch ein 800-Seiten-Opus hinzu?
MAILER: Geplant war das nicht. Das Buch entstand, weil Larry Schiller, mit dem ich schon bei >>Marilyn<< und>>Gnadenlos << zusammengearbeitet habe, an die KGB-Akten über Oswald herankam. Er fragte mich, ob ich nicht Lust hätte, mit ihm nach Weißrußland zu fliegen und ein Buch über Lee Harvey Oswald in Minsk zu schreiben. Ich hatte mich schon immer für Oswald interessiert - seit dem 22. November 1963. Also sagte ich zu und recherchierte mit kurzen Unterbrechungen fast ein halbes Jahr in Minsk und Moskau. Während dieser Zeit gewann ich ein klares Bild von Oswalds Persönlichkeit. Ich sah ihn nicht als Killer oder Exzentriker, sondern als jungen Mann, der gerade geheiratet hatte und nun versuchte, mit seiner Frau auszukommen. Das Material vermittelte ein sehr intimes Porträt von ihm. Deshalb habe ich nach meiner Rückkehr in die USA den Bericht der Warren-Kommission mit ganz neuen Augen gelesen, denn jetzt kannte ich Oswald ja. Es war, als ob man einem guten Bekannten, den man lange nicht gesehen hat, nach zehn Jahren auf einer Party trifft: die Veränderungen fallen einem sofort auf.
SCHECK: Warum haben Sie es nicht bei dem geplanten Buch über Oswalds Jahre in der Sowjetunion belassen?
MAILER: Das Material, das wir in Weißrußland über Oswald gesammelt hatten, ließ keinerlei Schluß darüber zu, ob er Kennedy erschossen hatte oder nicht. Aber nun wußte ich, was für ein Mensch Oswald war. Mich interessierte, ob mein Charakterbild mit den allgemein bekannten Fakten übereinstimmte. Unsere Recherchen hatten ganz neues Material zutage gebracht. Paradoxerweise war dafür ausgerechnet der KGB verantwortlich. Nach dem Attentat in Dallas hatte der russische Geheimdienst allen russischen Bekannten Oswalds striktes Redeverbot erteilt. Erst als die Sowjetunion nicht mehr bestand und Weißrußland sich geöffnet hatte, überwanden diese Menschen ihre Angst und brachen ihr Schweigen. Es war, als hätten wir eine versiegelte Kassette mit Zeitdokumenten gefunden. Ihre Erinnerungen an Oswald wirkten so frisch, als hätten sie ihn zuletzt vor einem Jahr und nicht vor dreißig Jahren gesehen. In Amerika war es dagegen so, als hätte man alle Augenzeugen auf einem Feld versammelt und fünftausend Panzer der Medien über sie hinwegrollen lassen. Mir erschein es sinnlos, hier neue Interviews zu führen. Deshalb habe ich mich auf die dokumentierten Aussagen gestützt.
SCHECK: Mit einer Ausnahme: Oswalds russischer Ehefrau Marina. Mit ihr haben Sie in Dallas gesprochen.
MAILER: Marina Oswald wurde als Lügnerin abgestempelt. Tatsächlich hatte sie aber große Angst, in die Sowjetunion deportiert zu werden - die Leute vom FBI und den anderen Geheimdiensten, von denen sie vernommen wurde, haben sie unter Druck gesetzt. Wenn sie nicht kooperiere, so wurde ihr damals zu verstehen gegeben, könne ihr alles mögliche zustoßen. Deshalb hat sie gelogen oder vorgegeben, daß sie ihr Gedächtnis im Stich ließ. Aber ich habe festgestellt, daß sie im Grunde eine ehrliche Frau ist, die lieber die Wahrheit sagt als zu lügen - auch wenn das mitunter sehr schmerzhaft für sie ist.
SCHECK: In den sechziger Jahren erklärten Sie, einen Wandel im Bewußtsein Ihrer Zeit herbeiführen zu wollen. Halten Sie an dieser Absicht fest?
MAILER: Das ist heute viel schwieriger geworden. Was den Wandel im Bewußtsein meiner Zeit angeht - da habe ich den Mund wohl etwas zu voll genommen. Aber das Bewußtsein Amerikas möchte ich immer noch gern verändern, denn das finde ich nach wie vor zum Kotzen. Wir Amerikaner sind unglaublich dumm, wenn man bedenkt, welche Vorteile wir haben, wie hoch wir entwickelt sind und wie einfach unsere Geschichte im Vergleich zu der anderer Länder verlief. Wir sind unbedarft, dumm und niederträchtig, weil es zur Zeit keinen kalten Krieg gibt, der unseren Patriotismus anspornen könnte.
SCHECK: Wer ist dafür verantwortlich?
MAILER: Es hat viel mit Gier zu tun, weil wir eine so wohlhabende Nation sind. Da wir heute aber im Begriff stehen, diesen Wohlstandsvorsprung zu verlieren, macht sich überall Angst breit. Ich glaube, es gibt eine spezifisch amerikanische Angst, die besonders charakteristisch für dieses Land ist. Wir sind eine Nation von Ausgestoßenen und Verbannten - die Menschen, die nach Amerika kamen, haben in ihren früheren Heimatländern alle irgendeine Form der Ablehnung erfahren. Deshalb unterscheiden wir uns in gewisser Weise von anderen Nationen: einerseits sind wir unternehmungslustiger, andererseits weniger selbstsicher als andere Völker. Hinzu kommt ein Phänomen, das sich inzwischen auf der ganzen Welt beobachten läßt, in Amerika aber besonders krass zum Vorschein tritt: die persönliche Entwurzelung. Die wenigstens Amerikaner können heute noch das Haus finden, in dem sie geboren wurden. Daher ist die Angst in Amerika größer als anderswo - auch wenn sich das nicht natürlich nicht beweisen läßt, Angst kann man schließlich nicht messen. Aber ich vermute, daß der Durchschnittsamerikaner mehr Angst hat als als der durchschnittliche Franzose, Deutsche oder Brite, obwohl diese Länder auch große Probleme haben und gewiß mehr zu leiden hatten als die USA.
SCHECK: Welche Funktion bleibt da noch für die Literatur - Trost zu spenden, ein Gefühl für Geschichte zu vermitteln?
SCHECK: Die Funktion der Literatur ist immer, die Selbstzufriedenen aufzustören und den Sinn für die Ironien und Paradoxien des Lebens zu schärfen. Hat man als Autor darüber hinaus eine besondere persönliche Vision anzubieten, um so besser. Das Problem dabei ist nur, daß die Literatur in den USA immer bedeutungsloser wird. Ich habe manchmal den Eindruck, daß die Schriftsteller meiner Generation die Letzten der Mohikaner sind. Nach uns werden die Bücher vielleicht nur noch von Computern geschrieben. Wir sind auf dem Rückzug. Wer in den dreißiger, vierziger oder fünfziger Jahren zu den wirklich bedeutenden Autoren der Zeit gehörte, ein Ernest Hemingway, William Faulkner oder John Steinbeck war, konnte auf die Kraft seines Namens vertrauen. Heute reicht das nicht mehr - Bücher müssen vermarktet werden. Aber Marketing ist der Todfeind der Literatur.
SCHECK: Haben Sie deshalb begonnen, Filme zu machen?
MAILER: Einen Film zu drehen macht einfach viel mehr Spaß, als ein Buch zu schreiben. Ich habe jetzt vier Filme als Regisseur gemacht, und diese Arbeit gehört zum Spannendsten, was ich je erlebt habe. Wenn ich dennoch immer wieder zur Literatur zurückkehre, dann deshalb, weil das Schreiben zwar weniger aufregend, dafür aber intellektuell befriedigender ist. Beim Schreiben hat man alles selbst in der Hand. Die Arbeit als Regisseur spricht jene Seite von mir an, die ich früher nie richtig ausleben konnte und die mir immer wieder Ärger einhandelte. Es ist eine Möglichkeit, der Einsamkeit am Schreibtisch eine Weile zu entfliehen. Am Ende der Dreharbeiten sehne ich mich regelrecht an meinen Schreibtisch zurück.
SCHECK: Sie zählen zu den wenigen amerikanischen Autoren, die sich nie scheuten, die politische Bühne zu betreten - 1969 haben Sie sogar für das Amt des New Yorker Bürgermeisters kandidiert. Warum stehen Sie unter Ihren Kollegen mit diesem politischen Engagement eigentlich so allein?
MAILER: Es gibt in der amerikanischen Literatur eine starke Tradition des Schriftstellers im Elfenbeinturm. Die meisten amerikanischen Autoren sind sich für die Politik zu schade. Sie sehen ihr Lebensziel darin, unsterbliche Kunstwerke zu schaffen, und glauben, daß die Politik dieses Streben korrumpiert oder zumindest befleckt. Anders kann ich mir diese Haltung nicht erklären.
SCHECK: Verbirgt sich dahinter nicht auch eine gewisse Feigheit?
MAILER: Mich hat Politik stets fasziniert, aber das will ich mir nicht zur Ehre anrechnen - man engagiert sich immer für das, was einen interessiert. Politik ist ein brutales Geschäft, und viele Schriftsteller sind hochsensible Menschen, die einfach davor zurückschrecken, eine Tracht Prügel zu beziehen. Das ist doch ganz verständlich: wenn jemand so zart besaitet ist, warum sollte er sich dann auf ein so knallhartes Spiel einlassen? Ich stamme aus einer robusten Familie und denke daher, daß ich mich von meiner Konstition her besser dafür eigne, auch mal einige Schläge einzustecken.
SCHECK: Sie haben immer auch gern ausgeteilt -etwa in Ihrer Essaysammlung "Reklame für mich selber" ...
MAILER: ... und mußte auf vielfältige Weise dafür bezahlen. In einem der Aufsätze habe ich zum Beispiel einige abfällige Bemerkungen über Philip Roth gemacht. Das hat er mir bis auf den heutigen Tag nicht verziehen. Damals hielt ich es für ehrenhaft, mir auf einen Schlag einen Haufen Feinde zu machen. Heute behalte ich meine Meinungen über andere Autoren schön für mich, es sei denn, ich will eine Rezension zu einem bestimmten Buch schreiben. Aber noch einmal so eine Breitseite abfeuern? Nein, nie wieder.
SCHECK: Hat Norman Mailer mit 72 die Altersweisheit ereilt?
MAILER: Ein wenig weiser bin ich schon geworden. Heute besitze ich weniger Talent, dafür aber mehr Weisheit. Was einem an Feuer fehlt, macht man durch Fleiß wieder wett - so gleichen sich die Vor- und Nachteile des Alters ungefähr aus. Falls ich mich überhaupt weiterentwickelt habe, dann insofern, als daß ich heute einen besseren Charakter habe. Ich habe früher alle möglichen Talente auf wilde Eskapaden verschwendet, bei denen unter dem Strich nichts herauskam. Heute bin ich fast ein 'conservateur'. Ich haushalte sehr sparsam mit meiner Zeit. Ich bin auch viel langweiliger als früher - Ehrenwort.
SCHECK: Für Ihre Sachbücher mit romanhaften Zügen hat sich in den USA der Begriff "faction" eingebürgert. Würden Sie auch "Oswald's Tale" so bezeichnen?
MAILER: "Faction" ist ein häßliches Wort. Ich kann diesen Begriff nicht ausstehen. Mein Buch über Oswald hat zwar einige Elemente eines Romans, aber ich zähle es nicht zur Belletristik. Dafür gibt es zwei Gründe: erstens enthält es viel journalistisches Material, das ganz auf Dokumenten beruht - KGB-Akten, Interviews, dem Bericht der Warren-Kommission und so weiter. Und zweitens trete ich in dem Buch selber auf und analysiere wie ein Rechtsanwalt oder Geheimdienstmann die Indizien. Wenn ein Autor sich mit realen Menschen und Ereignissen auseinandersetzt und selbst im Buch vorkommt, kann er es nicht mehr Belletristik nennen.
SCHECK: Früher haben Sie Ihr Interesse am Sachbuch damit begründet, daß Sie Ihr eigenes Ich zunehmend anöde. Hat Ihr Selbstüberdruß nun nachgelassen?
MAILER: Nicht mein eigenes Ich, das Erfinden ödet mich an. Alles Erfundene macht mir angst. In einem Roman muß man fortlaufend Entscheidungen über den Fortgang der Handlung treffen. Entscheidet man sich falsch, kann der Roman dadurch zerstört werden. Bei einem Sachbuch schenkt einem dagegen Gott die Handlung. Und Gott schreibt bessere Romane als jeder Romancier. Angenommen, das Attentat in Dallas wäre nie geschehen und jemand würde sich einen Roman über Oswald ausdenken - was für ein großartiger Roman wäre das! Welch außergewöhnliche Ahnung der Komplexität würde so ein Roman vermitteln, wenn man das alles erfunden hätte. So aber hat Gott mir die Handlung vorgegeben, oder der Teufel - oder vielleicht beide als Autorenteam.
SCHECK: War für Sie Oswald ein Einzeltäter oder Handlanger eines großen Komplotts?
MAILER: Nachdem Oswald erschossen wurde, war ich wie die meisten Amerikaner davon überzeugt, daß er unmöglich auf eigene Faust gehandelt haben konnte. Jetzt habe ich meine Meinung geändert. Ich bin immer noch nicht restlos davon überzeugt, ob Oswald der einzige Täter war. Aber heute weiß ich, daß es ihm zuzutrauen war. Das Attentat entsprach seinem Charakter - er war in der Lage dazu, er hatte das Motiv und die Gelegenheit.
SCHECK: Aber hat er es auch wirklich getan?
MAILER: Amerikaner haben eine Vorliebe, sich in prozentualen Wahrscheinlichkeiten auszudrücken. Für mich steht zu 75 Prozent fest, daß er ein Einzeltäter war. Aber es bleiben 25 Prozent voller Fragen.
SCHECK: Es gibt inzwischen über 2000 Bücher über Oswald und das Kennedy-Attentat. Warum fügen Sie diesem Berg aus Fakten und Spekulationen noch ein 800-Seiten-Opus hinzu?
MAILER: Geplant war das nicht. Das Buch entstand, weil Larry Schiller, mit dem ich schon bei >>Marilyn<< und>>Gnadenlos << zusammengearbeitet habe, an die KGB-Akten über Oswald herankam. Er fragte mich, ob ich nicht Lust hätte, mit ihm nach Weißrußland zu fliegen und ein Buch über Lee Harvey Oswald in Minsk zu schreiben. Ich hatte mich schon immer für Oswald interessiert - seit dem 22. November 1963. Also sagte ich zu und recherchierte mit kurzen Unterbrechungen fast ein halbes Jahr in Minsk und Moskau. Während dieser Zeit gewann ich ein klares Bild von Oswalds Persönlichkeit. Ich sah ihn nicht als Killer oder Exzentriker, sondern als jungen Mann, der gerade geheiratet hatte und nun versuchte, mit seiner Frau auszukommen. Das Material vermittelte ein sehr intimes Porträt von ihm. Deshalb habe ich nach meiner Rückkehr in die USA den Bericht der Warren-Kommission mit ganz neuen Augen gelesen, denn jetzt kannte ich Oswald ja. Es war, als ob man einem guten Bekannten, den man lange nicht gesehen hat, nach zehn Jahren auf einer Party trifft: die Veränderungen fallen einem sofort auf.
SCHECK: Warum haben Sie es nicht bei dem geplanten Buch über Oswalds Jahre in der Sowjetunion belassen?
MAILER: Das Material, das wir in Weißrußland über Oswald gesammelt hatten, ließ keinerlei Schluß darüber zu, ob er Kennedy erschossen hatte oder nicht. Aber nun wußte ich, was für ein Mensch Oswald war. Mich interessierte, ob mein Charakterbild mit den allgemein bekannten Fakten übereinstimmte. Unsere Recherchen hatten ganz neues Material zutage gebracht. Paradoxerweise war dafür ausgerechnet der KGB verantwortlich. Nach dem Attentat in Dallas hatte der russische Geheimdienst allen russischen Bekannten Oswalds striktes Redeverbot erteilt. Erst als die Sowjetunion nicht mehr bestand und Weißrußland sich geöffnet hatte, überwanden diese Menschen ihre Angst und brachen ihr Schweigen. Es war, als hätten wir eine versiegelte Kassette mit Zeitdokumenten gefunden. Ihre Erinnerungen an Oswald wirkten so frisch, als hätten sie ihn zuletzt vor einem Jahr und nicht vor dreißig Jahren gesehen. In Amerika war es dagegen so, als hätte man alle Augenzeugen auf einem Feld versammelt und fünftausend Panzer der Medien über sie hinwegrollen lassen. Mir erschein es sinnlos, hier neue Interviews zu führen. Deshalb habe ich mich auf die dokumentierten Aussagen gestützt.
SCHECK: Mit einer Ausnahme: Oswalds russischer Ehefrau Marina. Mit ihr haben Sie in Dallas gesprochen.
MAILER: Marina Oswald wurde als Lügnerin abgestempelt. Tatsächlich hatte sie aber große Angst, in die Sowjetunion deportiert zu werden - die Leute vom FBI und den anderen Geheimdiensten, von denen sie vernommen wurde, haben sie unter Druck gesetzt. Wenn sie nicht kooperiere, so wurde ihr damals zu verstehen gegeben, könne ihr alles mögliche zustoßen. Deshalb hat sie gelogen oder vorgegeben, daß sie ihr Gedächtnis im Stich ließ. Aber ich habe festgestellt, daß sie im Grunde eine ehrliche Frau ist, die lieber die Wahrheit sagt als zu lügen - auch wenn das mitunter sehr schmerzhaft für sie ist.
SCHECK: In den sechziger Jahren erklärten Sie, einen Wandel im Bewußtsein Ihrer Zeit herbeiführen zu wollen. Halten Sie an dieser Absicht fest?
MAILER: Das ist heute viel schwieriger geworden. Was den Wandel im Bewußtsein meiner Zeit angeht - da habe ich den Mund wohl etwas zu voll genommen. Aber das Bewußtsein Amerikas möchte ich immer noch gern verändern, denn das finde ich nach wie vor zum Kotzen. Wir Amerikaner sind unglaublich dumm, wenn man bedenkt, welche Vorteile wir haben, wie hoch wir entwickelt sind und wie einfach unsere Geschichte im Vergleich zu der anderer Länder verlief. Wir sind unbedarft, dumm und niederträchtig, weil es zur Zeit keinen kalten Krieg gibt, der unseren Patriotismus anspornen könnte.
SCHECK: Wer ist dafür verantwortlich?
MAILER: Es hat viel mit Gier zu tun, weil wir eine so wohlhabende Nation sind. Da wir heute aber im Begriff stehen, diesen Wohlstandsvorsprung zu verlieren, macht sich überall Angst breit. Ich glaube, es gibt eine spezifisch amerikanische Angst, die besonders charakteristisch für dieses Land ist. Wir sind eine Nation von Ausgestoßenen und Verbannten - die Menschen, die nach Amerika kamen, haben in ihren früheren Heimatländern alle irgendeine Form der Ablehnung erfahren. Deshalb unterscheiden wir uns in gewisser Weise von anderen Nationen: einerseits sind wir unternehmungslustiger, andererseits weniger selbstsicher als andere Völker. Hinzu kommt ein Phänomen, das sich inzwischen auf der ganzen Welt beobachten läßt, in Amerika aber besonders krass zum Vorschein tritt: die persönliche Entwurzelung. Die wenigstens Amerikaner können heute noch das Haus finden, in dem sie geboren wurden. Daher ist die Angst in Amerika größer als anderswo - auch wenn sich das nicht natürlich nicht beweisen läßt, Angst kann man schließlich nicht messen. Aber ich vermute, daß der Durchschnittsamerikaner mehr Angst hat als als der durchschnittliche Franzose, Deutsche oder Brite, obwohl diese Länder auch große Probleme haben und gewiß mehr zu leiden hatten als die USA.
SCHECK: Welche Funktion bleibt da noch für die Literatur - Trost zu spenden, ein Gefühl für Geschichte zu vermitteln?
SCHECK: Die Funktion der Literatur ist immer, die Selbstzufriedenen aufzustören und den Sinn für die Ironien und Paradoxien des Lebens zu schärfen. Hat man als Autor darüber hinaus eine besondere persönliche Vision anzubieten, um so besser. Das Problem dabei ist nur, daß die Literatur in den USA immer bedeutungsloser wird. Ich habe manchmal den Eindruck, daß die Schriftsteller meiner Generation die Letzten der Mohikaner sind. Nach uns werden die Bücher vielleicht nur noch von Computern geschrieben. Wir sind auf dem Rückzug. Wer in den dreißiger, vierziger oder fünfziger Jahren zu den wirklich bedeutenden Autoren der Zeit gehörte, ein Ernest Hemingway, William Faulkner oder John Steinbeck war, konnte auf die Kraft seines Namens vertrauen. Heute reicht das nicht mehr - Bücher müssen vermarktet werden. Aber Marketing ist der Todfeind der Literatur.
SCHECK: Haben Sie deshalb begonnen, Filme zu machen?
MAILER: Einen Film zu drehen macht einfach viel mehr Spaß, als ein Buch zu schreiben. Ich habe jetzt vier Filme als Regisseur gemacht, und diese Arbeit gehört zum Spannendsten, was ich je erlebt habe. Wenn ich dennoch immer wieder zur Literatur zurückkehre, dann deshalb, weil das Schreiben zwar weniger aufregend, dafür aber intellektuell befriedigender ist. Beim Schreiben hat man alles selbst in der Hand. Die Arbeit als Regisseur spricht jene Seite von mir an, die ich früher nie richtig ausleben konnte und die mir immer wieder Ärger einhandelte. Es ist eine Möglichkeit, der Einsamkeit am Schreibtisch eine Weile zu entfliehen. Am Ende der Dreharbeiten sehne ich mich regelrecht an meinen Schreibtisch zurück.
SCHECK: Sie zählen zu den wenigen amerikanischen Autoren, die sich nie scheuten, die politische Bühne zu betreten - 1969 haben Sie sogar für das Amt des New Yorker Bürgermeisters kandidiert. Warum stehen Sie unter Ihren Kollegen mit diesem politischen Engagement eigentlich so allein?
MAILER: Es gibt in der amerikanischen Literatur eine starke Tradition des Schriftstellers im Elfenbeinturm. Die meisten amerikanischen Autoren sind sich für die Politik zu schade. Sie sehen ihr Lebensziel darin, unsterbliche Kunstwerke zu schaffen, und glauben, daß die Politik dieses Streben korrumpiert oder zumindest befleckt. Anders kann ich mir diese Haltung nicht erklären.
SCHECK: Verbirgt sich dahinter nicht auch eine gewisse Feigheit?
MAILER: Mich hat Politik stets fasziniert, aber das will ich mir nicht zur Ehre anrechnen - man engagiert sich immer für das, was einen interessiert. Politik ist ein brutales Geschäft, und viele Schriftsteller sind hochsensible Menschen, die einfach davor zurückschrecken, eine Tracht Prügel zu beziehen. Das ist doch ganz verständlich: wenn jemand so zart besaitet ist, warum sollte er sich dann auf ein so knallhartes Spiel einlassen? Ich stamme aus einer robusten Familie und denke daher, daß ich mich von meiner Konstition her besser dafür eigne, auch mal einige Schläge einzustecken.
SCHECK: Sie haben immer auch gern ausgeteilt -etwa in Ihrer Essaysammlung "Reklame für mich selber" ...
MAILER: ... und mußte auf vielfältige Weise dafür bezahlen. In einem der Aufsätze habe ich zum Beispiel einige abfällige Bemerkungen über Philip Roth gemacht. Das hat er mir bis auf den heutigen Tag nicht verziehen. Damals hielt ich es für ehrenhaft, mir auf einen Schlag einen Haufen Feinde zu machen. Heute behalte ich meine Meinungen über andere Autoren schön für mich, es sei denn, ich will eine Rezension zu einem bestimmten Buch schreiben. Aber noch einmal so eine Breitseite abfeuern? Nein, nie wieder.
SCHECK: Hat Norman Mailer mit 72 die Altersweisheit ereilt?
MAILER: Ein wenig weiser bin ich schon geworden. Heute besitze ich weniger Talent, dafür aber mehr Weisheit. Was einem an Feuer fehlt, macht man durch Fleiß wieder wett - so gleichen sich die Vor- und Nachteile des Alters ungefähr aus. Falls ich mich überhaupt weiterentwickelt habe, dann insofern, als daß ich heute einen besseren Charakter habe. Ich habe früher alle möglichen Talente auf wilde Eskapaden verschwendet, bei denen unter dem Strich nichts herauskam. Heute bin ich fast ein 'conservateur'. Ich haushalte sehr sparsam mit meiner Zeit. Ich bin auch viel langweiliger als früher - Ehrenwort.