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Interview aus Anlaß seines neuen Romans „Der Boden unter ihren Füßen“

SCHECK: Salman Rushdie, das Ende des 20. Jahrhunderts scheint für viele angloamerikanische Autoren der Moment, Bilanz zu ziehen in Form von sehr umfangreichen Romanen, die jeweils mehrere Dekaden umfassen. Ich denke etwa an Don DeLillos "Unterwelt" oder an John Updikes "Gott und die Wilmots" ...

Denis Scheck |
    SALMAN RUSHDIE: ... ein schrecklicher Roman ...

    SCHECK: ... Hängt dieses Phänomen mit der Jahrtausendwende zusammen oder mit der Biographie der jeweiligen Autoren?

    RUSHDIE: Es hat wohl eher damit zu tun, daß wir Autoren an bestimmte Wendepunkte in unserem Leben gelangt sind. Ich jedenfalls hatte den Eindruck, daß sich in meinem Schreiben ein tiefgreifender Wandel vollzieht, und mein neuer Roman "Der Boden unter ihren Füßen" ist sozusagen die Manifestation dieses Wandels. Vielleicht liegt das einfach an der Erzählerstimme in diesem Buch. Satz für Satz fand ich die Sprache, die ich da entdeckte, ungeheuer spannend. Sie steckte voller Möglichkeiten, voller Energie, und das wirkte auf mich sehr befreiend. Seit ich schreibe habe ich das erst einmal zuvor erfahren, nämlich während der Arbeit an meinem Roman "Mitternachtskinder". Damals war ich über zwanzig Jahre jünger, und für diesen jüngeren Salman Rushdie stellte die Erzählerstimme von "Mitternachtskinder" nichts weniger als einen Durchbruch dar. Im Grunde bin ich Schriftsteller geworden, als ich die Stimme von Salim in "Mitternachtskinder" fand. Und dieser neue Roman schien mir genauso wichtig, weil er eine neue Phase in meinem Schreiben einleitet. Es ist nun schon einige Monate her, seit ich die Arbeit an diesem Buch abgeschlossen habe, am stärksten ist mir jedoch die sprachliche Qualität in Erinnerung, Satz für Satz, Absatz für Absatz halte ich es für das Beste, was ich je geschrieben habe. Ich will das gar nicht von dem Buch insgesamt behaupten, aber auf der stilistischen Ebene, was die Kraft und den Rhythmus der Sprache angeht, habe ich diesen Eindruck.

    SCHECK: Sie konstruieren in "Der Boden unter ihren Füßen" eine Parallelwelt zu der unseren, eine Welt, die an Nabokovs Antiterra aus "Ada" erinnert. Was hat Sie auf diese Idee gebracht?

    RUSHDIE: Das entwickelte sich nach und nach. Es gab zwei Probleme, die ich im Verlauf des Buchs zu durchdenken versuchte. Da gab es erstens die Grundthese des Romans, nämlich, daß die größten Rockstars in der Geschichte der Popmusik aus Bombay stammen - was ebenso komisch wie absurd ist, denn natürlich weiß jeder, der das liest, daß das einfach nicht wahr ist. Und ich fand, wenn ich in diesem Punkt so haarsträubend offen und direkt auf die Fiktion setze, dann sollte das nicht der einzige solche Moment in dem Buch sein. Es galt, eine ganze Welt solcher haarsträubender Fiktionen zu erschaffen. Das war also die erste Überlegung. Das zweite Problem war noch eigenartiger. Das Buch beginnt mit einem Erdbeben im Jahr 1989. Und nach einer Weile begann mir das Sorgen zu machen, daß ich an einem bestimmten Tag ein Erdbeben stattfinden ließ, das die Hälfte der Pazifikküste Mexikos zerstörte, obwohl es ein solches Erdbeben nie gab und dieser Teil Mexikos immer noch existiert. Ich fragte mich, ob das legitim ist. Das hat mir wirklich großes Kopfzerbrechen bereitet - obwohl das in gewisser Weise ziemlich idiotisch war. Natürlich kann man einfach sagen: ich bin der Autor des Buchs, ich behaupte das, und deshalb ist das im Buch so und damit basta. Mich hat aber die Frage interessiert: Was bedeutet es, wenn ich als Autor so etwas tue? Und die Antwort lautet: Wir betreten hier ganz offensichtlich eine Phantasiewelt. Das wiederum paßte sehr gut zu meinen Überlegungen die beiden Superstars aus Bombay betreffend, und da dachte ich mir: dann laß das Erdbeben doch stattfinden, du mußt sozusagen auch deinen Lesern den Boden unter den Füßen wegziehen. Ich hielt das für gerechtfertigt und interessant, weil ja auch die äußere Realität, die Wirklichkeit, in der wir leben, fortwährend auf den Kopf gestellt wird. An einem Tag heißt es so und so, am nächsten Tag das genaue Gegenteil. An einem Tag heißt es: Keine Bodentruppen, am nächsten Tag: Bodentruppen. An einem Tag ist Herr Soundso ein Terrorist, am nächsten Tag ein großer Staatsmann. Staaten tauchen auf und verschwinden wieder, Grenzen verschieben sich rund um den Erdball. Man wacht jeden Tag in einer anderen Welt auf, mir jedenfalls geht es so. Dieses Eindringen des Imaginären in die Wirklichkeit läßt sich Tag für Tag beobachten. Und mein Buch reflektiert das nur. An einer Stelle lasse ich meinen Erzähler darüber nachdenken, daß auf die Welt kein Verlaß mehr ist. Weil ich den Eindruck habe, daß die wirkliche Welt trügerisch, provisorisch und ständig im Wandel begriffen ist, wollte ich in meinem Roman ein Spiegelbild davon zeichnen, gewissermaßen das Bild eines Zerrspiegels.

    SCHECK: Und warum haben Sie sich als Helden Ihrer Geschichte ausgerechnet diese neue Spezies des zwanzigsten Jahrhunderts ausgesucht: den Pop-Star?

    RUSHDIE: Ich glaube, dieses Thema liegt heute einfach auf der Hand, es ist unausweichlich. Die Sehnsucht der Menschen nach Stars steht mittlerweile im Zentrum der westlichen Kultur. Man kann heute ein Star für alles mögliche werden. Man kann ein Star werden, weil man dem Präsidenten einen bläst. Man kann ein Star werden, weil man als Arzt anderen Menschen Sterbehilfe leistet. Man kann ein Star werden, weil man seinem Ehemann den Penis abschneidet oder weil man seine Ehefrau umbringt. Jeder kann heute ein Star sein. Mich hat eine Fernsehsendung tief beeindruckt, die ich in England gesehen habe. Es ging um eine High-School-Klasse kurz vor dem Schulabschluß. Ungefähr 75 Prozent der Schüler erklärten auf die Frage nach ihrem Berufswunsch: ich will berühmt werden. Sie sagten nicht, wofür sie berühmt sein wollten, das schien völlig unwichtig. Berühmtsein an sich war ein Beruf - und zwar der Traumberuf von 75 Prozent aller Schulabgänger. Das ist ein Indiz, welches Ausmaß dieses Phänomen des Starkults in unserem Bewußtsein inzwischen angenommen hat. Ohne die Mitwirkung von Stars läßt sich heute nichts mehr auf die Beine stellen - früher waren sie nur für die Eröffnung von Supermärkten wichtig, heute kann man ohne Stars kein Geld für eine wohltätige Stiftung auftreiben, man kann keine Partei gründen, man kann mehr oder weniger gar nicht existieren, ohne daß irgendwelche Berühmtheiten einem ihren Segen dazu geben. Hollywood produziert schon eine ganze Weile Stars, aber diese Dominanz des Stars in unserer Kultur ist meiner Ansicht nach etwas Neues und mehr als bizarr. Mir erscheint das als schreckliche Verzerrung der Wirklichkeit, außerdem geht die Sache für die Leute, die zu Stars werden und in diesem phantastischen Rampenlicht stehen, oft recht tragisch aus. Der Starkult fordert sehr viele Opfer. Und auch darüber amüsieren wir uns: selbst der Absturz des Stars hat seinen Unterhaltungswert. Schließlich stellte ich in Gedanken eine Verbindunug zwischen diesem Phänomen und den alten polytheistischen Pantheons her. Mir fielen dabei viele Ähnlichkeiten auf. Wenn man die nordischen oder die Hindu-Götter studiert oder auch die griechisch-römische Götterwelt, dann sieht man da Götter in Menschengestalt, die sich sehr schlecht benehmen: niederträchtig, gemein, lüstern, arrogant und launisch. Denken Sie nur mal an Wagner. Sie leben in einer Welt, in der sie große Macht haben, schließlich sind sie Götter, und es gibt nichts, was ihnen Zurückhaltung auferlegte. Alles ist möglich, die sofortige Befriedigung jedes Wunsches. Und ich fand, genau das machen wir heute mit diesen Menschen, die Stars werden. Wir statten sie mit großer Macht aus, weil sie Geld haben oder Ruhm, wir erlassen ihnen jede Form von Zurückhaltung und sehen dann gebannt zu, was sie daraus machen. Das ist im Grunde so, als ob man jemand in ein Auto ohne Bremsen setzt. Viele Menschen kommen damit nicht zurecht. Kurt Cobain von Nirvana etwa - sein Selbstmord hatte unmittelbar damit zu tun, daß er sein Leben nicht mehr zu beherrschen glaubte. Damit - und mit den Drogen.

    SCHECK: Sie schreiben aber nicht über irgendeinen Rockstar mit einem hübschen Gesicht, der nur zwei Gitarrengriffe beherrscht, sondern über zwei ungeheuer talentierte Musiker ...

    RUSHDIE: Über so jemanden zu schreiben würde mich nicht interessieren, eine letztlich so oberflächliche Figur wäre für mich nicht spannend. Wenn man zwei Figuren zu den Trägern einer sehr langen Geschichte macht, dann müssen diese Figuren schon eine gewisse Tiefe mitbringen. Sie müssen Facetten aufweisen, die man näher untersuchen kann und die der Leser erst nach und nach wahrnimmt. Aber davon einmal abgesehen, wollte ich die Popmusik am Besten messen, was sie hervorgebracht hat. Jeder kann sich da seine eigene Liste aufstellten, sagen wir mal Bob Dylan, John Lennon, Paul McCartney, Paul Simon, Randy Newman und Carol King und noch ein paar andere Songwriter, wenn man sich also die besten auf diesem Gebiet während unserer Zeit entstandenen Arbeiten anhört, dann sind diese Songs um keinen Deut schlechter als die besten Lieder aller Zeiten. Sie werden mit der gleichen Wahrscheinlichkeit überdauern wie Schubert-Lieder und Songs von Cole Porter, Irvin Berlin oder sonst jemand. Man sollte der Popmusik mit dem Respekt begegnen, den sie durch ihre besten Beispiele verdient, und von dem Rest einfach schweigen, denn dieser Rest ist einfach Schrott. Wenn man über Popkultur und insbesondere Popmusik schreibt, dann stellt sich die Frage: wieviel Schrott läßt man zu? Das heißt, es stellt sich die Frage der Vulgarität. Denn die Welt des Pop ist eine vulgäre Welt. Wenn man diese Welt aber säubert und sie allzu verfeinert und intellektuell anregend darstellt, dann verfälscht man sie. Läßt man aber zuviel Vulgarität zu, dann schreibt man ein vulgäres Buch. Es läuft also auf einen Drahtseilakt hinaus. Ich habe auch kein Patentrezept dafür, außer, daß man sich auf seinen Instinkt verlassen muß. Ich war mir beim Schreiben allerdings dieser Gefahr ständig bewußt.

    SCHECK: Welche Perspektive sieht Salman Rushdie für sich heute? Die Regierung des Iran hat sich von der Fatwa gegen Sie distanziert, gleichzeitig haben Privatleute 5 Millionen Dollar Kopfgeld auf Sie ausgesetzt. Nähert sich Salman Rushdies Leben der Normalität?

    RUSHDIE: Leider nicht ganz. Teils liegt das an dem von Ihnen erwähnten Restrisiko, das man im Auge behalten muß. Teils liegt es aber auch daran, daß sich Sicherheitsleute nur sehr schwer in ihrem Eifer bremsen lassen. Mitunter habe ich den Eindruck, daß ich durch Sicherheitsvorkehrungen eingeengt werde, deren Notwendigkeit ich beim besten Willen nicht einzusehen vermag. Im großen und ganzen habe ich jedoch das Gefühl, daß wir ein gutes Stück weiter sind. Leider sind wir noch nicht am Ende der Geschichte angelangt, denn es gibt noch einige Probleme im Iran. Ich glaube allerdings nicht, daß es neben dem Problem im Iran noch andere Probleme gibt. Tatsache ist, daß wir erst dann überzeugt sein können, daß die iranische Regierung ihr Versprechen halten wird, wenn wir sicher sein können, daß die Regierung alle Ebenen des Staates kontrolliert. Es gibt alle möglichen undurchsichtigen Gruppierungen im Iran, deren primäre Loyalität nicht unbedingt der Regierung gehört, sondern die religiösen Führern ergeben sind. Dessen muß man sich bewußt sein. Darüber will ich nicht das Positive vergessen. Als die iranische Regierung bei den Vereinten Nationen ihre Erklärung abgab, tat sie das nicht leichtfertig und muß dafür das Einverständnis der religiösen Führer gehabt haben. Wahr ist auch, daß Chamenei nie gegen die Erklärung protestiert hat. Darüber hinaus hat die Regierung des Irans aber auch ihre eigene Glaubwürdigkeit aufs Spiel gesetzt. Sie trat vor das größte Publikum der Welt, die Vollversammlung der Vereinten Nationen, und erklärte, daß sie den Bürger eines anderen Landes nicht angreifen würde und einen solchen Angriff auch nicht dulden würde. Dadurch ist ein kurioses Paradox entstanden, denn dies bedeutet, daß es für diese Leute nun sehr wichtig ist, daß mir nichts zustößt. Denn sollte mir doch irgendwas passieren, dann stehen sie wie Idioten da. Warum sollte ihnen dann noch jemand vertrauen, wenn sie einen solchen Deal nicht einhalten können? Welche Glaubwürdigkeit hätten sie dann noch? Und das wissen sie ganz genau, denn das sind sehr schlaue Leutchen. Dadurch ist eine interessante Wende in meinem Fall eingetreten. Lange hieß es ja, das Problem bei der Fatwa sei, daß die Iraner ihre Haltung nicht ändern könnten, ohne das Gesicht zu verlieren. Nun würden sie das Gesicht verlieren, falls mir etwas zustoßen sollte. Eine totale Umkehrung also. Ich meine das nicht nur als Witz, ich bin wirklich überzeugt davon. Diesen Leuten ist vollkommen klar, daß ihre Glaubwürdigkeit davon abhängt, ob sie solche Abkommen einhalten können - ob sie behaupten können, ihr Land wirklich zu kontrollieren.

    SCHECK: Wir Deutschen haben mit Michael Naumann einen Bundesbeauftragten für Kultur, der Ihr früherer Verleger war. Haben Sie eine kleine Wunschliste an ihn gerichtet?

    RUSHDIE: Michael Naumann hat immer erklärt, daß er als Kulturminister dafür sorgen wolle, den Drohungen gegen mich und gegen die Verleger des Buchs ein Ende zu setzen. Ich glaube, die Situation dafür ist jetzt sehr gut, denn jetzt haben wir eine britische Regierung, die mich sehr unterstützt und sehr entschlossen ist, diese Sache zu beenden. Die Beziehungen zwischen dieser britischen Regierung und den neuen Regierungen in Deutschland und Frankreich sind auch sehr viel enger als in der Vergangenheit.

    SCHECK: Das war früher nicht der Fall?

    RUSHDIE: Nein, die Tories wollten nur das absolte Minimum für mich tun. Und diese Einstellung übertrug sich auch auf andere Länder. Warum sollten die Deutschen die Sache an die große Glocke hängen, wenn die Briten kein Interesse daran zeigten? Was ich nun Michael Naumann und der deutschen Regierung insgesamt sagen möchte, ist, daß es noch offene Fragen gibt. Wir dürfen nicht zulassen, daß dieses Kopfgeld ausgesetzt bleibt. Wir dürfen uns nicht mit einer Situation abfinden, in der der Iran einerseits erklärt, er werde nichts gegen mich unternehmen, andererseits aber Leute innerhalb seiner Grenzen toleriert, die ständig Aktionen ankündigen. Ich finde, wir haben das Recht zu erwarten, daß der Iran seine Entscheidungen in der eigenen Bevölkerung durchsetzt. Und in diesem Bestreben ist die britische Regierung nach wie vor sehr aktiv, und ich hoffe, daß Michael Naumann und andere in der deutschen Regierung sie dabei unterstützen.

    Interview mit Salman Rushdie

    rushdie.ram