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"Intimität und Pose"

"Ich habe nicht im Sinn, beim Anblick eines Teiches in Ohnmacht zu fallen", hat der französische Künstler Edgar Degas gesagt. Er interessierte sich nämlich nicht für Freilichtmalerei wie seine Freunde Manet, Monet und Renoir. Viele Pastelle und Gemälde hat er geschaffen, doch auch zahlreiche Plastiken zählen zu seinem Werk - nur dass er die der Öffentlichkeit zeitlebens vorenthalten hat. Jetzt hat die Hamburger Kunsthalle diesem Teil seines Werks eine Ausstellung gewidmet.

Von Rainer Berthold Schossig |
    Sie ist wirklich erschreckend kokett, eine Lolita: Die "Kleine Tänzerin von 14 Jahren". Ihr Standbein steht selbstbewusst, ihr Spielbein spielt selbstvergessen. Den Kopf zurückgeworfen, stolziert sie hochnäsig, schnippisch daher. Edgar Degas hatte seiner Wachs-Plastik zwar ein Tutu aus echtem Chiffon umgetan, ihr Haar mit echtem Band gefasst, doch ihr dunkles Antlitz war fremd, geradezu aztekisch, wie man fand. Wegen ihres ungewöhnlichen Naturalismus, sprich ihrer die europäische Seherwartung beleidigenden Hässlichkeit, erregte sie 1881 Aufsehen beim bürgerlichen Pariser Publikum. Zu seinen Lebzeiten präsentierte Degas nur diese einzige seiner Wachs-Figuren, an denen er zeitlebens nebenher arbeitete. Einer der Güsse - nur gerade 96 cm hoch - steht nun auch in der Hamburger Kunsthalle, aus der Sammlung des Museo de Arte de Sao Paulo. Von dort kommen auch die anderen, über 70 Skulpturen Degas', in denen sich diese Schau geradezu verschwenderisch ergeht. Die Figurinen sind auf zwei in großen Segmentbögen sich schwingenden Tischen auf Brusthöhe freistehend angeordnet, nur die kleinsten in Vitrinen. Kommentierend umrahmt werden sie von einer Reihe prächtiger Ballett-Gemälde, samtfarbener Boudoir-Pastelle und schummriger Bordell-Zeichnungen.

    Alles ist weich - selbst die den Wachsmodellen folgenden Bronzegüsse, die jeden Fingerabdruck, jede Unebenmäßigkeit des Materials nachbilden. Weich wie Wachs. Und dies mag der alternde Degas schließlich auch metaphorisch so gemeint haben: Die Mädchen waren Wachs in seinen Händen. Alternd wich sein Begehren wohl zunehmend einem erotisch interesselosen Wohlgefallen an den biegsamen, wippenden, balancierenden und posierenden Mädchen- und Frauen-Körpern.

    Unnachgiebig befragt diese Ausstellung Degas' Blick auf das Weibliche. Auch das Motto "Intimität und Pose" fragt danach. Was unterscheidet Degas vom Mainstream seiner Epoche? Was auch vom Impressionismus, dem man ihn gern allzu schnell zuschlägt? Degas' Zeitgenossen berauschten sich an der Inszenierung von Posen, an der, je nach Bedarf wohlgefälligen - das heißt sittsamen oder eben verworfenen - Erscheinung des Weibes. Die Salonmalerei folgte dem herrschenden, dem männlichen Blick. Und dies taten viele Impressionisten auch. Degas beschreitet genau hier einen anderen Weg, wie ihn nur einer später ging: Toulouse-Lautrec. Auch der war nicht in erster Linie Impressionist, sondern kritischer Protokollant seiner Epoche, der Belle Epoque, auch ihrer Rückseite. Edgar Degas lebte zwar nicht im Freudenhaus, wie es der unglückselige Maler-Zwerg zeitweise tat, doch Degas wählte einen ähnlichen Weg: Er tauchte ein in die Intimität der weiblichen Welt, hinter die Kulissen des Theaters und Tingeltangels. Seine "Absinth-Trinker" oder sein beispiellos düsteres Interieur "Vergewaltigung" zeigen keine Hoffnung, sondern das ganze Elend der Frauen im Geschlechterkrieg seiner Zeit.

    Frauen als Wachs in den Händen der Männer. Das ist recht eigentlich der Skandal von Degas' gekneteten Ballett-Ratten. Jede Pose, jede Geste ist einstudiert, jeder Schritt spiegelt verordnete Ausrichtung der Körper. Die Tänzerinnen zitieren Weiblichkeit, und Degas gibt sozusagen die Anführungszeichen mit. Daneben aber zeigt er die Mädchen auch in ihrer Formbarkeit, hält ihre unwillkürlichen Bewegungen fest, hinter der Bühne, bei der Probe, im Zwielicht des unbeobachteten Moments: Ein mechanisches Rücken am Hut, eine Wendung vorm Spiegel, ein verstohlenes Gähnen, ein Sich-Bücken zum Bad, Verrenkungen beim Abtrocknen der Hüfte, beim Kämmen der Haare oder Schnüren der Schuhe - dies sind jene "intimen Posen", die er den Mädchen gleichsam ablauscht. Doch was er tut, ist das Gegenteil von Voyeurismus: Denn immer geht es darum, die verschwiegene Arbeit beim Herrichten der weiblichen Körper zum Vorschein zu bringen, die Investitionen zu ihrer Disziplinierung, bevor sie dem öffentlichen Blick wieder ausgesetzt werden.

    Besonders schockierend wird diese Sicht auf den ungeschönten Leib in den selten gezeigten Monotypien seiner Bordellszenen aus dem Musée Picasso. Kein Wunder, dass Picasso diese auf den ersten Blick unscheinbaren Blätter gesammelt hat. Sie zeigen die ganze gnadenlose Schärfe von Degas' sozialem Blick: Während kurz zuvor noch der von ihm hoch verehrte Maler Dominique Ingres die weiblichen Insassen seines "Türkischen Bades" wie zuckersüße Leckerbissen arrangierte, zeigt Degas schlicht entblößte Frauen, die wie Hühner auf der Stange gelangweilt auf ihre Kunden warten. Er verzichtet gelassen auf jede Inszenierung des Weiblichen zugunsten einer gleichsam spontanen Ästhetik ungeschönten Zeigens.