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Inzest

Drei Monate lang war ich homosexuell. Genauer, drei Monate lang, glaubte ich, dazu verurteilt zu sein. Mich hatte es tatsächlich erwischt, ich machte mir keine Illusionen. Der Test bestätigte es. Mich hatte es mehr und mehr gepackt. Nicht mit den ersten Malen. Kraft der Blicke. Ich verfiel dem Prozess meines Untergangs. In welchem ich mich nicht wiedererkannte. Das war nicht länger meine Geschichte. Das bin nicht ich gewesen. Und doch, sobald ich sie sah, bestätigte der Test stets das gleiche Ergebnis. Ich war homosexuell, sobald ich sie sah. Zu mir fand ich wieder, danach. Immer wenn sie verschwand.

Walter van Rossum |
    So beginnt der Roman, der in Wahrheit ausschließlich die persönliche Krankengeschichte der Autorin erzählt. Zunächst also sieht Christine Angot sich in den Klauen einer heimtückischen Krankheit namens Homosexualität. Wenn sie den nicht gerade freundlich klingenden Fachbegriff wählt, drückt sie aus, dass sie unter Homosexualität keinesfalls eine legitime Form der Liebe versteht, eine Variante der Lust oder auch nur ein Feld spezieller Leidenschaft. Es muss eine Art ekliges Virus sein. Allerdings wüsste man nach ein paar Dutzend Seiten schriller Klage schon gerne, wo denn eigentlich der Schuh drückt. Schließlich lässt sich heutzutage nicht mehr ohne weiteres nachvollziehen, warum eine gerade 40jährige Frau öffentlich Zeter und Mordio schreit wegen ein paar freiwilliger gleichgeschlechtlicher Berührungen. Selbst fiese Reaktionäre vermögen in dergleichen keine zivilisationsgefährdenden Perversionen mehr zu erkennen. Deshalb liest sich der zweite Teil dieser Krankengeschichte zunächst wie eine Erklärung: denn hier verfällt die Autorin eine zeitlang dem Wahnsinn oder was sie dafür hält. Nach der Homosexualität die Paranoia - das bietet der Autorin Gelegenheit zu einem rhetorischen Kontinuum haspelnden Ringens.

    Christine Angot lässt uns teilhaben an ihren wenig ergiebigen, dafür aber umso ekstatischeren Selbstgesprächen. Nach und nach verstehen wir immerhin, dass die Verschriftlichung ihrer inneren Wirren in Wahrheit diagnostischen Zwecken dient. Sie zitiert seitenlang aus einem psychiatrischen Wörterbuch und auf kaum einleuchtenden Wegen kommt sie schließlich zur erschütternden Gesamtdiagnose ihres Falles, die der prahlerische Titel ihres Buches allerdings schon lange verkündet hat: Inzest. Diesem so ziemlich letzten real existierenden Tabu verdankt Christine Angot nicht nur die Wonnen kostbar ausgestellten Unglücks, ihrem Tabubruch verdankt die bislang erfolglose Schriftstellerin Christine Angot auch endlich die Freuden eines prekären Ruhms. Als 1999 ihr Buch in Frankreich erschien, löste es einen herrlichen Skandal aus, der natürlich dem Verkauf des Werkes überaus förderlich war. Nach etlichen Büchern peinlicher Selbstentblößung, die kaum einer lesen wollte, hat die Autorin diesmal wenigstens die Skandal-Regie klug organisiert. Sie erzählt vom Inzest nicht in fiktiver Form, sondern sie breitet ihre persönliche Erfahrungswüste in wirren Worten aus. Und um die Wucht des Authentischen zu vergrößern, erzählt sie bis ins namentliche Detail von ihrem Vater und seiner familiären Situation. Mit Sicherheit wäre sonst der Skandal ausgeblieben, denn Christine Angot hat das Talent von ihrem inzestuösen Vaterverhältnis so zu schreiben, dass das Inszest-Tabu so ziemlich jeden Schrecken verliert und allerdings auch nicht gerade neugierig macht.

    Im Alter von 14 Jahren lernte das Mädchen zum ersten Male ihren Vater kennen. Im Laufe der Zeit entspann sich eine erotische Beziehung, die später zu einem sexuellen Verhältnis wurde. Man muss kein erfahrener Psychiater sein, um zu erkennen, dass Angots Schilderung dieser Beziehung von atemberaubender Sprachlosigkeit beherrscht wird - oder sollte man sagen: von tiefer Verlogenheit? Um ihre Inzest-Erfahrung zur Blut-und-Wunden-Operette hochzupalavern, benötigt sie 150 Seiten Anlauf, auf denen sie mit den angeblichen Spätfolgen prunkt, also jener lesbischen Episode und der kokett zusammengeschriebenen Paranoia. Damit aber auch gar nichts der Phantasie überlassen bleibt, die in diesem Pseudo-Roman an sich schon wenig Chancen hat, greift sie zur rüden dokumentarischen Beglaubigung. Sie macht nicht nur ihren Vater kenntlich, sondern auch jene homosexuelle Freundin, eine Ärztin in einer kleinen südfranzösischen Stadt und sie verzichtet nicht einmal darauf, deren persönliches Umfeld bis ins intime Detail öffentlich zu machen. Mit Literatur hat das nichts zu tun. Vielleicht mit Rache oder mit psychischen Turbulenzen, die der Kontrolle der Autorin zu entgehen scheinen.

    Christine Angot hatte wohl verstanden, dass Prosa ihrer Güte hunderttausendfach in den Schubladen neurotischer Amateurschriftsteller lagert. Erst die kalkulierte und hässliche Indiskretion hat ihre Seelenzustandsbericht zum Diskussionsgegenstand werden lassen. Wenig einleuchtend tarnt sie ihre ungebetenen Bekenntnisse als einen Amoklauf des Authentischen. Doch mehr als rasch erkalteter Synthetikwortschaum springt dabei nicht raus. Mit schier obszöner Verzückung palavert sie von ihren Wunden. Und man weiß nicht, ob der Nervenzusammenbruch bereits die Feder führt oder ob sie einen Nervenzusammenbruch simuliert, um endlich mal was zu schreiben zu haben. Jedenfalls opfert sie einer ziemlich verbreiteten literarischen Mystifikation: Sie glaubt, ein fulminantes Bekenntnis zur Paranoia sei bereits Literatur. Doch so entsteht nur die Karikatur einer furchtbaren Krankheit und die furchtbare Karikatur der Literatur. Die Literatur wird als existentielles Ernstfallgebiet verkauft und mit schwerer Authentizität betankt.

    Entweder reden oder die Klinik. Ich bin gezwungen. Entweder die Klinik oder mit Ihnen reden. Zu Ihnen. Schreiben ist eine Art Schutzwall gegen den Wahnsinn, ich habe ja schon ein Wahnsinnsglück, Schriftstellerin zu sein, wenigstens diese Möglichkeit. Das ist wenigstens schon mal was. Dieses Buch wird als ein beschissenes Zeugnis abgetan werden. Wie aber anders vorgehen?

    Wir empfehlen: die Klinik. Das "Wahnsinnsglück, eine Schriftstellerin zu sein", hat sich uns nicht mitgeteilt - wohl aber der Wahn.