Ein überlebensgroßes Reh wird auf einen Vorhang aus Gaze projiziert. In der dunklen Hütte dahinter öffnet sich eine Tür. Ein Mann zieht eine junge Frau an sich heran, hält ihr den Mund zu und zerrt sie ins Freie. Mit dieser eigenwilligen Interpretation eines besitzergreifenden Vaters und seiner ihm ausgelieferten Tochter lässt Mariusz Trelinski Tschaikowskis "Iolanta" beginnen.
Bella Bartoks "König Blaubarts Bart" fängt mit einem gesprochenen Prolog an: Findet das, was wir sehen werden wirklich statt? Mariusz Trelinski suchte eine Verbindung zwischen der romantischen, lyrischen Musik Tschaikowskis und der modernen Musik Bartoks. Dieses Bindeglied sind die Frauencharaktere. "Iolanta" ist die Geschichte einer blinden Königstochter, die gar nicht weiß, dass es Sehende gibt. Judith aus "Blaubart" kann sehen, aber sie ist blind vor Liebe.
"Iolanta" endet glücklich. Die Titelheldin verliebt sich in einen Edelmann, lernt sehen. Doch bei Mariuzs Trelinski ist das Happy End nur ein vorläufiges. Viele Jahre später wird Iolanta das Trauma ihrer Kindheit einholen. Denn Iolanta und Judith sind für Mariusz Trelinski ein und dieselbe Frau in verschiedenen Lebensabschnitten.
"Beide Opern sind Märchen. Und Märchen haben immer einen tieferen Sinn. Iolanta handelt von einem blinden Mädchen. Sie lebt tief im Wald mit ihrem mächtigen Vater. Er nimmt ihre Blindheit zum Vorwand, sie zu beschützen. So kann er sie ganz für sich haben. Das hat mit väterlicher Liebe nichts zu tun. In Blaubarts Schloss ist die Situation genau umgekehrt. Judith kehrt zurück zu dem Mann, der wahrscheinlich ein Mörder ist, zum legendären Blaubart. Sie verlässt ihre Familie, ihren Freund, ihre friedliche Existenz, um an einen Ort zu gehen, der geheimnisvoll ist und wahrscheinlich sogar tödlich. Warum macht man so etwas Verrücktes?"
Iolanta ist ein unwissendes Mädchen, das zur Frau heranwächst. Anna Netrebko singt zunächst verhalten, als könne sie das, was ihr geschieht, gar nicht richtig einordnen. Rein und pur ist ihr Liebesduett mit Piotr Beczala, dem Vaudémont. Als das Licht in Iolantas Leben kommt, blüht sie auf. Anna Netrebko spielt und singt ihre Rolle mit der Naivität reinster Unschuld, glockenhell ist ihr Sopran. Bei ihr ist ein blindes Mädchen ein blindes Mädchen. Punkt.
Judith ist die reife, sich ihrer Sexualität bewusste Frau, die einem Mann verfällt. Nadja Michael spielt sie mit Hingabe und hocherotisch, singt die Judith mit all ihren Facetten von Verliebtheit bis Verzweiflung.
"Hier ist es so, dass die Judith alles öffnen will und immer sich selber und ihren eigenen Ängsten begegnet. Und am Ende weiß man nicht, war das alles nur ein Traum, ist das wirklich Realität. Und das ist auch bewusst so gehalten in diesem surrenden Schwebezustand. In dieser Figur ist alles drin, alles drin in meinen Augen, alles was passieren kann, wenn man das Alleinsein versucht zu überwinden."
König Blaubart selbst ist eine eher deklamatorische Rolle, gesungen von Michael Petrenko. Blaubart und Judith stehen neben einem dunklen Abgrund, der immer tiefer zu werden scheint. Das Bühnenbild ist - wie bei "Iolanta" - ganz in Grautönen gehalten. Einziger Farbtupfer sind die türkisen Kleider der Sängerinnen. Am Pult steht Valery Gergiev. Er dirigiert elegisch, und im ersten Teil von "Iolanta" spielt das Orchester fast etwas zu kräftig. Mitreißend sind die Schlusschöre. Bei Mariusz Trelinski haben Sigmund Freud, Pierre Lacan und Bruno Bettelheim Pate gestanden. Und ein großer Regisseur:
"Blaubart und Yolanda verlangen einer cineastischen Herangehensweise. Ich war immer fasziniert von Filmen der 40er-Jahre. Hitchcock, vor allem "Rebecca", haben diese Produktion beeinflusst."
Judith öffnet die verbotenen Türen in Blaubarts Schloss Tür um Tür: die Folterkammer, die Kriegskammer, die Schatzkammer mit den blutigen Kronen, die Tür zum Garten mit den blutigen Blumen, die Tür, die den Blick auf Ländereien unter blutigen Wolken freigibt. Als Judith die sechste Tür öffnet, hinter der sie die getöteten Frauen vermutet, kriecht sie in einen weißgekachelten Raum, rollt sich zusammen. Sie krümmt sich vor dem herannahenden Blaubart. Sie ist eine verletzte, verlorene Person, gefangen von den Dämonen der Kindheit, besessen von der Idee, Blaubart zu lieben und zu retten. Es sind dunkle Märchen, die Mariusz Trelinski an diesem Abend in der MET zeigt, einem großartigen Abend.