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IPPNW-Bericht
Gesundheitsfolgen der Unfälle von Fukushima und Tschernobyl

Die Nuklearkatastrophe von Fukushima ereignete sich vor fast fünf Jahren im März 2011. Die Organisation Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW) hat nun einen Bericht über die Folgen von Japan und dem Atomvorfall in Tschernobyl vor 30 Jahren vorgelegt. Eins wird dabei besonders deutlich: Die Ärzte sehen weiteren Forschungsbedarf.

Von Dieter Nürnberger | 17.02.2016
    Die Ruine des Atomkraftswerks Fukushima fotografiert aus einem Helikopter.
    Die Ruine des Atomkraftswerks Fukushima. (picture alliance / dpa )
    Die Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges machen vor allem darauf aufmerksam, dass es auch nach rund 30 Jahren Reaktorkatastrophe in Tschernobyl und fünf Jahre nach Fukushima keinen Schlussstrich geben dürfe. Man sieht weiteren Forschungsbedarf bei den gesundheitlichen Folgen der beiden Atomunfälle.
    Es ist ja so, dass weiterhin Sperrzonen um die betroffenen Gebiete existieren, es werden auch weiterhin erhöhte Strahlenwerte registriert. Es gibt zudem noch viele Betroffene - Menschen also, die gesundheitliche Folgeschäden davongetragen haben. Und ein Aspekt sollte aus Sicht der Internationalen Ärzte nicht unerwähnt bleiben: In Fukushima hat man immer noch mit verseuchtem radioaktiven Wasser zu kämpfen. Angelika Claußen ist die Vizepräsidentin der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges in Europa. Sie war vor kurzem erst in Japan.
    "Jeden Tag sollen 300 Tonnen verseuchtes Wasser in das Meer fließen. Die Regierung weiß nicht, was sie mit rund 1.100 Tonnen verseuchten Wassers, die noch auf dem Gelände gelagert werden, machen soll. Unterhalb des Reaktors gibt es eine sehr stark versuchte Zone - auch hier weiß man nicht, wie man damit umgehen soll. Es gibt somit viele offene Fragen. Ich finde es auch besonders beunruhigend, dass die Olympischen Spiele 2020 in Japan stattfinden sollen. Und das auch in einem Gebiet, welches direkt an der 20-Kilometer-Sperrzone liegt."
    Die Ärzte haben heute einen Report veröffentlicht, der sich vor allem mit den gesundheitlichen Folgen der beiden Katastrophen auseinandersetzt. Wobei hier natürlich gesagt werden muss, dass die Forschung auf diesem Gebiet längst noch nicht abgeschlossen ist. Es geht um langfristige medizinische Beobachtungen.
    Zweifel an Untersuchungen
    Zudem hegen die Ärzte Zweifel, dass die Behörden in den betroffenen Ländern einen wirklichen Anspruch haben, die Folgen seriös zu untersuchen. Deswegen können oft auch keine konkreten Daten genannt werden. Die veröffentlichten Zahlen liegen zudem recht weit auseinander. Beispielsweise die Todeszahlen in Folge der Katastrophe in Tschernobyl. Angelika Claußen:
    "Bei den Liquidatoren allein liegen die Schätzungen zwischen 112.000 bis 125.000 Toten. Von insgesamt 830.000 Liquidatoren, die dort gearbeitet haben. Was die Bevölkerung betrifft: Hier sind die Toten nie gezählt worden. Bei den Krebserkrankungen liegt die Zahl zwischen einigen Zehntausend und immerhin rund 815.000 Menschen."
    Liquidatoren werden jene Soldaten oder Bauarbeiter genannt, die nach der Katastrophe direkt in der näheren Umgebung des havarierten Kraftwerks eingesetzt wurden.
    Die Ärzte verweisen im Falle Tschernobyl auf viele festgestellte gesundheitliche Folgen: Vor allem sind hier Schilddrüsenkrebserkrankungen bei Kindern zu nennen. Es habe auch einen Anstieg von Krankheiten wie Brustkrebs und Leukämie gegeben. Hinzu kommen ebenso Nichtkrebserkrankungen - beispielsweise Schädigungen des Herz-Kreislaufsystems, der Lungen - aber auch Hirnschäden, letzteres betreffe besonders die genannten Liquidatoren.
    Hagen Scherb arbeitet als Wissenschaftler am Helmholtz-Zentrum für Umwelt und Gesundheit in München. Er sagt, dass es inzwischen auch weitere gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse gebe. Auch diese Ergebnisse seien alarmierend:
    "Wir sehen anhand der Zahlen, dass es auch einen Blickwinkel auf das Geschlechterverhältnis bei den Geburten gibt. Das hat sich nach Tschernobyl massiv verändert. Es wurden 500.000 Mädchen weniger geboren - von 1987 bis 2011. Das bedeutet, dass auch heute noch circa 20.000 Mädchen in Europa weniger zur Welt kommen. Wenn man es mit Zahlen davor vergleicht."
    Kritik an der Forschungspraxis
    Die Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges kritisieren auch die derzeitige offizielle Forschungspraxis in Japan. So werde im Moment lediglich nach Schilddrüsenkrebs geforscht - und das auch nur bei Personen bis 18 Jahren. Allein dieser Ansatz sei ungenügend, wobei vorliegende Untersuchungsergebnisse schon beunruhigend genug seien, sagt Angelika Claußen:
    "Es sind bei rund 370.000 japanischen Kindern inzwischen 115 nachgewiesene Schilddrüsenkrebsfälle registriert worden. Die wurden inzwischen auch schon operiert. Hinzu kommen noch 50 Verdachtsfälle. Die normale jährliche Rate von Schilddrüsenkrebs bei Kindern und Jugendlichen in Japan pro einer Million Personen als Richtgröße liegt aber bei lediglich drei Fällen."
    Aus Sicht der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges muss somit weitergeforscht werden. Aufgrund der äußerst langfristigen Strahlenproblematik könne es keinen Schlussstrich unter die beiden Reaktorkatastrophen geben.