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Iren reisen Iren nach

Auswandern, um zu überleben. Kein Land Europas ist von dieser kollektiven Erfahrung so geprägt wie Irland. Als sich Europa im 19. Jahrhundert ins industrielle Zeitalter aufmachte, blieb Irland ein reiner Agrarstaat. Als dann aber die Kartoffelpest die Insel heimsuchte, kam es dort zur letzten großen Hungerkatastrophe in der alten Welt: Als "the great famine" ging sie in die europäische Geschichte ein. In den sechs Jahren zwischen 1845 und 1851 kam eine Million Menschen ums Leben. Zwei Millionen machten sich auf den Weg und verließen ihre Heimat. Sie gingen in die Industriegebiete von England, Schottland und Wales. Sie überquerten als Hungerflüchtlinge den Atlantik. Richtung Amerika. Richtung Neue Welt. Sofern sie die Reise überlebten. Am Ende hatten zwei Drittel aller Iren ihre Insel verlassen. Heute wird die irisch-stämmige Diaspora weltweit auf 70 Millionen geschätzt. Die Kennedys gehören dazu. Die Clintons auch.

Von Martin Alioth |
    Im Weltzentrum für irische Traditionen in Manchester begrüßt der Vorsteher Michael Forde Gäste aus den neuen EU-Ländern zum gemeinsamen Mittagessen und entbietet ihnen den herkömmlichen irischen Willkommensgruß - hunderttausend davon. Auch der Bürgermeister von Manchester ist gekommen.

    An seinem ersten Amtstag sei er besonders gerne hier, gerade mit einem Namen wie O'Callaghan. - Da ist er nicht allein. Acht der letzten zehn Bürgermeister von Manchester waren irischer Herkunft.

    Das irische Rindfleisch ist verzehrt, es ist Zeit für Erinnerungen. Drei der Gründer dieses irischen Begegnungszentrums haben sich zu diesem Zweck am Tisch versammelt. Tommie Ely kam 1954 aus der irischen Grafschaft Tipperary, der Präsident Michael Forde 1961 aus der Grafschaft Mayo, und Dermot Maguire 1958 aus Clones in der Grafschaft Monaghan.

    Da gab es nichts damals, erinnert sich der Akkordeonspieler, Schrebergartenbesitzer und langjährige Stadtangestellte von Manchester. In den 50er-Jahren war Irland tot. - Tot vielleicht, einsam bestimmt, bestätigt Michael Forde:

    Alle seine Freunde, mit denen er in Charlestown gälischen Fußball gespielt hatte, waren schon gegangen, und mit 19, so vermutet er, wolle man ja die Welt sehen.

    Und zudem hatte er, neben seinen Schulfreunden, unzählige Onkel und Tanten, die sich in Manchester niedergelassen hatten. - Iren reisen Iren nach, das ist ein Merkmal der irischen Diaspora, dass sie ihre eigene Gesellschaft bevorzugt. Der 64Jährige Dermot Maguire reibt seine von Arthritis verkrüppelten Hände und erzählt eine seiner vielen Geschichten:

    An seinem ersten Arbeitstag im Fischmarkt war sein engster Arbeitskollege ein Cousin, aber das merkte er erst, als sie beide von derselben Tante eine Weihnachtskarte erhielten.

    Unter den Anekdoten und Reminiszenzen der Emigranten indessen verbirgt sich ein nobles Anliegen. Michael Forde, der trotz seinen weißen Haaren jugendlich und vital wirkt, erinnert sich an die Zeit vor 25 Jahren, als der Gedanke an dieses Zentrum geboren wurde:

    Er wies seine Freunde darauf hin, dass die Iren in England viel schlechter behandelt wurden als in Amerika. Die Emotionen des Nordirlandkonflikts vergifteten auch das Los der Iren in England.

    Seine eigenen Kinder kamen weinend aus der Schule, weil eine britische Boulevardzeitung nach einem IRA-Anschlag <mordender irischer="" abschaum=""> auf die Titelseite druckte.

    Forde, der sich in den letzten 40 Jahren vom Schreiner zum Baustoff-Händler gemausert hat, wollte das nicht auf sich sitzen lassen, sondern ein positives Bild der Iren in England entwerfen. Er besuchte andere irische Zentren.

    Aber die, so fand er, lebten in der Vergangenheit - eben nur in den Anekdoten. Forde wollte mehr: ein ansprechendes Irlandbild und einen offenen Begegnungsort für andere Einwanderergruppen in Manchester.

    Dieser Gedanke hätte die herkömmlichen irischen Klubs überfordert.

    Die vietnamesischen Boot-Flüchtlinge, die es nach Großbritannien verschlagen hatte, trafen sich in seinem Zentrum zum ersten Mal. Später folgten Philippinos, Kosovaren und andere mehr. Dabei bleibt die Gründergeneration stolz auf ihre Heimat.

    Durch und durch und immerdar bleibt Tommie Ely Ire, und mit ihm seine Familie. - Dermot Maguire blickt ebenfalls zurück. Er hat sein Leben genossen.

    Hat er je erwogen, nach Irland zurückzukehren?

    Manchester ist jetzt seine Heimat, was sollte er noch in Irland? - Michael Forde, der Visionär unter den dreien, weiß auch, dass Irland nicht mehr dasselbe ist wie vor 40 Jahren.

    Forde steht auf, streicht sich den taubenblauen Anzug glatt und ist in Gedanken schon in der nächsten Sitzung.</mordender>