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Irische Flucht vor Elend und Tod

"Hammelfleisch ist knapp und teuer. Iren gibt es im Überfluss," bescheidet der Verwalter des tief verschuldeten sechsten Earls von Liskerry seinem Pächter. Weg also mit den viel zu vielen irischen Unterpächtern auf dem Boden der Krone. Her mit den Schafen. Owen Carmichael soll dafür sorgen, dass die 16 Familien auf seinem Anwesen das Weite suchen und ihre stickigen, kleinen Elendshütten niederbrennen.

Von Brigitte Neumann | 02.07.2008
    Carmichael hat Skrupel, und er hat Angst vor der Verzweiflung der Armen, die sich fast ausschließlich vom Kartoffelanbau ernähren. Aber genau in diesem Jahr wird Irland von der Kartoffelpest heimgesucht. Und der Engländer Carmichael lässt die Hütten der Hungernden abfackeln. Auch die von Mike O'Brian und seiner Familie. Zwei Mädchen liegen tot auf ihren Pritschen, in den Eltern ist noch ein Rest Leben, aber nicht so viel, dass sie sich vor den Flammen retten könnten. Einziger Überlebender: Der 16-jährige Sohn Fergus.

    Peter Behrens, Kanadier und Nachkomme von im Jahr 1846 ausgewanderten Iren, legt einen Roman über die Große Hungersnot vor, die hunderttausende von Iren das Leben kostete. Schätzungsweise zwei Millionen verließen das Land Mitte des 19. Jahrhunderts. Auf sogenannten Coffin Ships - Sarg-Schiffen - starben noch einmal Ungezählte an Typhus und Unterernährung auf ihrem Weg in die Neue Welt. Der 53-jährige Peter Behrens erzählt aus der Perspektive des Jungen Fergus O'Brian, wie der dieses eine Jahr 1846 überlebte, auf der Flucht vor Elend und Tod. Erst in Irland, dann in England, zuletzt während der Überfahrt nach Nordamerika.

    "Ich habe wahnsinnig viel recherchiert, denn ich musste die Welt, durch die er ging, kennenlernen, und zwar auf jede erdenkliche Art und Weise: wie sie riecht, wie sie sich anfasst, wie sie sich anhört, wie sie aussieht, wie man sich in ihr bewegt und fühlt. Dazu musste ich natürlich die politisch-historischen Rahmenbedingungen dieser Zeit kennenlernen. Aber Fergus kannte die nicht, und ich wollte nicht, dass das Buch irgendetwas enthält, was er nicht kannte oder sah. Es ist also kein historischer Roman. Ich wollte nie eine Geschichtslektion erteilen. Ich weigere mich, hinter dem Leser zu stehen, ihm auf die Schulter zu klopfen und zu sagen: Dies geschah aus diesem und jenem Grund. Meine Hauptfigur hat keinerlei Empfinden dafür, dass er ein Ereignis durchlebt, das als Great Famine, die große Hungersnot in die Geschichte eingegangen ist. Er weiß überhaupt erst dann, dass er Ire ist, als er das Land gezwungenermaßen verlässt. Fergus ist bis zu einem gewissen Grad und die meiste Zeit seines Lebens ein sehr einfacher Typ."

    Geschichte ist ein Gesamtwerk aus Geschichten. Insofern hat der studierte Historiker Peter Behrens mit dem "Gesetz der Träume" einen fruchtbaren Beitrag zur Geschichtsschreibung geleistet. Normalerweise schreibt Behrens Drehbücher für Hollywood-Studios, aber ihn frustriert, dass aus den meisten Drehbüchern nie ein Film wird. Und wenn es doch einmal passiert, dann erkenne man seine eigene Handschrift kaum wieder. Mit seinem ersten Roman wollte er sich drei Wünsche erfüllen: Etwas schreiben, das nur von ihm ist, tatsächlich erscheint; und Peter Behrens wollte einem Familiengeheimnis auf die Spur kommen.

    "Für mich ist dies das Buch über meinen Ur-Ur-Großvater. Aber eigentlich weiß ich so gut wie nichts über ihn, außer, dass er ein O'Brian war und in den 1840ern aus Clare nach Kanada kam. Es gibt keine Tagebücher, keine Erinnerungsstücke, keine Gruselgeschichten, die er an langen Winterabenden am Kamin erzählt hätte. Die Hungersnot ist für Leute wie meine Familie - Immigranten der dritten Generation - eine erlebte Geschichte, derer man sich schämte, die man deshalb nicht erinnern wollte. Wir sprechen über Menschen in verzweifelter Armut, die auch, als sie sich gerettet hatten, über das Grauen, lieber schwiegen. Ich habe mit diesem Buch angefangen, als ich an einem anderen nicht weiterkam. Eine Geschichte, die 100 Jahre später, nämlich während des Krieges, 1940, spielt. Die Charaktere sind Figuren, die meiner Elterngeneration entstammen - meinen unmittelbaren Vorfahren. Während ich an diesen Figuren arbeitete, verspürte ich die Notwendigkeit zu verstehen, wie sie wurden, was sie sind. Ich musste also weiter zurückgehen, bis zur großen irischen Hungersnot. Und ich stieß auf ein Tabu. In manchen Familien gibt es diese Geheimnisse, die alles durchdringen, gerade weil es verboten ist, darüber zu sprechen. Sogar wenn Menschen sich dessen nicht bewußt sind, dass sie ein Geheimnis haben, es entfaltet seine Wirkung. Es beansprucht einen Platz in ihrem Leben. Ich spürte, dass es in dieser Vergangenheit etwas zu bergen gab. Und damit war das andere Buch erst einmal gestorben für mich. Das neue Thema entfaltete sofort eine große Dynamik, es hatte Kraft. Inzwischen schreibe ich wieder an der Geschichte aus dem 20. Jahrhundert. Ich habe sie wieder lebendig gekriegt."

    "Das Gesetz der Träume", wie der Roman heißt, ist ein Gesetz des Überlebens in schweren Zeiten: Einfach nur weitermachen. Nur an den nächsten Schritt denken. Es ist ein Gesetz, das Peter Behrens von seiner Großmutter gelernt hat, sagt er. Es ist für Zeiten, in denen man träumt zu sterben während man wacht. So wie Fergus, den Hunger und Trauer so leicht gemacht haben, dass er fürchtet, er könne sich jeden Moment von der Erde lösen oder sich auflösen. Eine Todessehnsucht überkommt ihn, wenn er sich an die verlorenen Eltern erinnert. Er erlebt Erinnerungen überhaupt wie Löcher, die einen verschlingen. Also besser, man erlebt nichts, was der Erinnerung wert wäre. Auch Bindungen sind hinderlich, denn sie fesseln und bedeuten, das man sich zwangsläufig erinnert.

    Fergus' erste Station nach dem Tod seiner Eltern ist das Armenhaus, dem er entkommt, bevor er sich - wie fast alle anderen - mit Typhus infiziert. Dann wird er von einer marodierenden Kindertruppe aufgenommen, die alle bei einem Überfall umkommen. Alle, außer Fergus. Er verdient er sich ein wenig Geld als Viehtreiber und schifft sich anschließend nach Liverpool ein, wo er in einem Bordell namens "Dragon" strandet. Die Chefin päppelt ihn auf, aber nur, weil er bald als Puppenjunge anschaffen soll. Bei einem "Dragon"-Betriebsausflug sieht Fergus seine erste Eisenbahn:

    Leidenschaft aus Bewegung und Ferne.
    Macht des Rauchs, Verwandlung.
    Möglichkeiten, Veränderungen.
    Er erreichte die Schienen in dem Moment, als der Zug vorbeidonnerte, hart wie die Hölle, schillernd vor Geschwindigkeit, Lichtblitze aus Abteilfenstern versprühend. Eine wundervolle Erscheinung, die sein Verständnis von Welt zerbersten ließ.


    Fergus wird Eisenbahnarbeiter. Ein Knochenjob - unter jeder englischen Eisenbahnschwelle liege ein toter Ire, geht die Sage. Er verliebt sich in die Frau seines Vorarbeiters, des brutalen Säufers Maldoon, und flieht mit ihr auf einem Schiff nach Amerika. Fergus ist einer unter Tausenden, meist kranken, halbverhungerten Iren, die Mitte des 19. Jahrhunderts Rettung in der Neuen Welt suchen. Behrens zieht eine Parallele zu den Armutsimmigranten, die heute beispielsweise nach Kalifornien strömen. Über sie würde genauso geurteilt wie über die Ankömmlinge aus Irland vor 150 Jahren.

    "Sie sind schmutzig, von weit weg, sie tragen keine Schuhe, sie benehmen sich unzivilisiert, sie sprechen unsere Sprache nicht, sondern einen unverständlichen Kauderwelsch; sie haben viel zu viele Kinder, sie sind zu fremd, sie werden nie so werden wie wir, sie werden uns verändern. All dies wurde über die Iren gesagt, die zusammen mit den Deutschen die erste Gruppe war, die tatsächlich als Einwanderer galten, nicht mehr als Siedler. Sie kamen in den 1840ern in eine etablierte Gesellschaft. Den Deutschen ging es besser. Sie waren besser vorbereitet, gebildeter. Häufig waren sie Bauern, die nicht nur Kenntnisse, sondern auch Werkzeuge mitbrachten. Die Iren, die nach 1840 kamen, waren zuhause landlose Bauern gewesen. Sie hatten kein Kapital, keine Bildung und konnten oft kein Englisch sprechen. Und sie wurden von den Amerikanern mit wenig Sympathie empfangen."

    "Das Gesetz der Träume" ist ein sehr visueller Action-Roman, eine unerhörte Geschichte. Die Lizenz für die Verfilmung des Stoffes ist denn auch bereits verkauft.

    Der Roman umfasst ein Jahr im Leben eines Jungen und böte Stoff für sechzig. Behrens hat einen sprühenden, vollmundigen, an Dickens erinnernden Stil. Was allerdings wie ein Tick den Strom seiner schnellen Erzählung stört, ist Peter Behrens' Hang, Sinnsprüche am Ende jedes Kapitels zu platzieren, in der Art finaler Gefühlsbilanzen: "Manchmal zerspringt einem das Herz und sagt einem, was man tun muss." Doch das sind nur Schönheitsfehler in dem ansonsten anmutig ausbalancierten, opulenten Romangemälde "Das Gesetz der Träume" von Peter Behrens.