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Irlands Erfahrungen mit EU-Referenden

In den Koalitionsverhandlungen fordert die CSU mehr Volksabstimmungen in EU-Fragen. Anders als Deutschland hat Irland damit hinreichend Erfahrung. Kein anderes Land der EU hat seine Bürger in den letzten 41 Jahren häufiger über europäische Fragen abstimmen lassen.

Von Martin Alioth |
    Volksabstimmungen über neue europäische Integrationsschritte waren nie eine zwingende Vorschrift in der irischen Verfassung. Das gilt auch heute noch. Nach dem ursprünglichen Referendum von 1972 über den Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft wurden die irischen Stimmbürger nicht mehr befragt. Erst 1987, anlässlich der europäischen Einheitsakte, erstritt ein kritischer Bürger, Raymond Crotty, eine Volksabstimmung vor dem irischen Supreme Court. Seither haben irische Regierungen aus Gründen der politischen Opportunität immer das Volk konsultiert. Mit den Verträgen von Maastricht und Amsterdam ging das auch gut, doch im Juni 2001 verweigerten die Iren – bei geringer Stimmbeteiligung – die Ratifikation des Vertrags von Nizza. Das restliche Europa war verdutzt. Wenige Monate später legte der damalige irische Premierminister, Bertie Ahern, einen Treueschwur an Europa ab:

    Irland müsse vollberechtigtes Mitglied der EU bleiben und dürfe nicht am Rande stehen. Das sei entscheidend für Irlands Wohlstand.

    Und so wurde im folgenden Jahr erneut abgestimmt – diesmal mit dem erwünschten Resultat. Schon damals war unübersehbar, dass Brüssel sich nicht von einem Zwerg wie Irland irritieren lassen würde. Gänzlich anders regierte die Europäische Union 2005, nachdem Frankreich und die Niederlande den europäischen Verfassungsvertrag an der Urne verworfen hatten. Das war das Ende dieses Projekts, was in Irland mit Unbehagen verfolgt wurde. Die Quittung kam 2008, als Irland über den Vertrag von Lissabon abstimmte.

    Auch er wurde abgelehnt. Doch Irland war nun erpressbar. Die Immobilienblase war geplatzt, die Banken wackelten, die Wirtschaft stürzte ab. Als der Lissabonner Vertrag 2009 erneut zur Abstimmung vorgelegt wurde, zogen die Gegner alle Register: Von Humor bis Apokalypse durfte nichts fehlen.

    Nach dem Vorbild von Elvis Presley empfahlen gegnerische Gruppen, den Vertrag einfach nach Brüssel zurückzuschicken. Der selbst ernannte Sprecher der Kritiker, der Unternehmer Declan Ganley, malte den Teufel an die Wand:

    Mit Lissabon ende die Demokratie in Europa.

    Murrend beugten sich die Irinnen und Iren dem Ultimatum und stimmten den Reformverträgen zu. Dabei ging es nicht darum, ob dieser Vertrag der beste Weg in die europäische Zukunft darstelle, sondern schlicht um ein grundsätzliches Bekenntnis zu Europa. Die Diskussion werde mit grober Keule geführt, beklagte sich der Präsident der Sinn-Féin-Partei, Gerry Adams:

    Es gehe zu wie im Dracula-Roman des irischen Schriftstellers Bram Stoker. Ständig drohe der Sturz in den Abgrund, das Weltende in Finsternis und Chaos.

    Komplexe Verträge, die dicker sind als ein Telefonbuch, eignen sich wohl nicht besonders gut für differenzierte Debatten, zumal solange die EU keinen Weg findet, ein Nein zu respektieren. Für die Iren kam der Notfall im Dezember 2010: Sie mussten unter den Rettungsschirm der EU flüchten, um die eigene Zahlungsunfähigkeit zu umgehen. Der Generalsekretär des irischen Gewerkschaftsbundes, David Begg, blieb skeptisch:

    Die EU habe entschieden, zuerst die Banken zu retten. Die Bürger Europas müssten nun dafür bezahlen.

    Trotzdem akzeptierten die Iren letztes Jahr auch noch den Fiskalvertrag der EU an der Urne, einen Herzenswunsch von Kanzlerin Merkel. Erneut handelte es sich dabei nicht um eine gänzlich freie Willensbildung.