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Irmtrud Wojak: Eichmanns Memoiren - Ein kritischer Essay

Adolf Eichmann war der Deportationsspezialist des Reichssicherheitshauptamtes. In dieser Funktion organisierte er den Transport von Millionen Juden in die Vernichtungslager. Nach dem Krieg war es ihm gelungen, zu verschwinden und in Argentinien ein unbehelligtes Dasein zu führen, bis ihn Agenten des israelischen Geheimdienstes dort aufspürten und nach Israel entführten, wo ihm der Prozess gemacht wurde, der bekanntlich mit der Hinrichtung endete. Durch Hannah Arendts Berichte von dem Jerusalemer Gerichtsverfahren Anfang der 60er Jahre wurde der SS-Obersturmbannführer zum Inbegriff der Banalität des Bösen. Auf diese Formulierung war Hannah Arendt gekommen, weil ihr dieser Täter - in krassem Widerspruch zu der Ungeheuerlichkeit der Tat - als Ausbund fühllosen bürokratischen Biedersinns erschienen war. Noch im Angesicht seines Todes drosch Eichmann pathetische Phrasen:

Rolf Pohl |
    Adolf Eichmann war der Deportationsspezialist des Reichssicherheitshauptamtes. In dieser Funktion organisierte er den Transport von Millionen Juden in die Vernichtungslager. Nach dem Krieg war es ihm gelungen, zu verschwinden und in Argentinien ein unbehelligtes Dasein zu führen, bis ihn Agenten des israelischen Geheimdienstes dort aufspürten und nach Israel entführten, wo ihm der Prozess gemacht wurde, der bekanntlich mit der Hinrichtung endete. Durch Hannah Arendts Berichte von dem Jerusalemer Gerichtsverfahren Anfang der 60er Jahre wurde der SS-Obersturmbannführer zum Inbegriff der Banalität des Bösen. Auf diese Formulierung war Hannah Arendt gekommen, weil ihr dieser Täter - in krassem Widerspruch zu der Ungeheuerlichkeit der Tat - als Ausbund fühllosen bürokratischen Biedersinns erschienen war. Noch im Angesicht seines Todes drosch Eichmann pathetische Phrasen:

    In einem kurzen Weilchen, meine Herren, sehen wir uns ohnehin alle wieder. Das ist das Los aller Menschen. Gottgläubig war ich im Leben. Gottgläubig sterbe ich. Es lebe Deutschland. Es lebe Argentinien. Es lebe Österreich. Das sind die drei Länder, mit denen ich am engsten verbunden war. Ich werde sie nicht vergessen.

    Hannah Arendts Einschätzung von Eichmanns Persönlichkeit hat jahrzehntelang die Forschung beeinflusst - und dabei etwas Entscheidendes übersehen, wie Irmtrud Wojak in ihrem neuen Buch über Eichmanns Memoiren ausführt, nämlich die Tatsache, dass der Bürokrat aus dem Reichssicherheitshauptamt ein rabiater Nationalsozialist gewesen sei. Die stellvertretende Leiterin des Fritz Bauer Instituts in Frankfurt stützt sich in ihrer Arbeit im wesentlichen auf zwei Quellen: nämlich Eichmanns Aufzeichnungen während seiner Haft in Israel und auf ein langes Interview, dass der Obersturmbannführer außer Diensten dem niederländischen Journalisten und ehemaligen SS-Offizier Willem Sassen zwischen 1956 und 59 in Argentinien gab. Dieses fast vergessene Dokument umfasst 67 Tonbänder und konnte von Irmtrud Wojak zum ersten Mal ausgewertet werden. Rolf Pohl hat ihr Buch ’Eichmanns Memoiren’ für uns gelesen:

    Irmtrud Wojaks Studie bezieht sich zunächst auf die sogenannten "Sassen-Interviews". Willem Sassen war ein niederländischer Journalist und ehemaliger SS-Untersturmführer, der zur argentinischen Kolonie geflohener NS-Verbrecher gehörte und hier mit Eichmann zusammentraf. Außer den vielfältigen Versuchen, aus dem Verkauf der Interviews Kapital zu schlagen, bestand das Hauptmotiv Sassens darin, die angebliche "Legende" über die Ermordung von 6 Millionen Juden mit Hilfe des Deportationsexperten Eichmann zu widerlegen, zumindest aber die Zahlen drastisch nach unten zu korrigieren. Eichmann hatte allerdings überhaupt kein Interesse, den "Ertrag" seiner Arbeit zu schmälern und damit seine Effektivität in Frage zu stellen. Er war vielmehr empört über die Anschuldigen, die seit den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen gegen ihn weltweit erhoben wurden und wollte sich mit eilfertiger Gewissenhaftigkeit rechtfertigen. Nicht die Leugnung des Massenmords war sein Ziel, sondern die Leugnung der eigenen Schuld.

    Dieses Motiv, die Leugnung der eigenen Schuld, stand bei den weiteren Eichmann-Dokumenten noch stärker im Vordergrund, auf die Irmtrud Wojak, teilweise erstmalig, zurückgreifen konnte. Es handelt sich um zwei autobiographische Aufzeichnungen, die Eichmann unter den Titeln "Meine Memoiren" und "Götzen" während seiner Haft in Israel ab 1960 verfasst hat. Ähnlich wie die persönlichen, unter vergleichbaren Bedingungen zustande gekommenen Erklärungen anderer nationalsozialistischer Täter - etwa die Erinnerungen des ehemaligen Rüstungsministers Albert Speer oder die psychologische Nabelschau des Lagerkommandanten von Auschwitz Rudolf Höß - dienten alle Texte Eichmanns unterschiedlich der Verteidigung, der Rechtfertigung und der Abwehr von Schuld. Sie können deshalb, so Irmtrud Wojak, nur mit größter Vorsicht als historische Quellen verwendet werden.

    "Wer sich mit den Selbstzeugnissen der NS-Täter oder ihren Aussagen in den Prozessen einmal befasst hat, den wird nicht verwundern, dass hier so manche Halbwahrheit und Selbstrechtfertigung zur Sprache kam, um das eigene Leben zu retten. Daher sollte man auch von den verschiedenen Rechtfertigungen Eichmanns keine exakten historischen Auskünfte erwarten."

    Dennoch sind diese zuweilen kaum zu ertragenden Texte aufschlussreich in Bezug auf die zu den Verbrechen gehörenden Persönlichkeitsmerkmale.

    "Sie liefern Details über die Typologie eines NS-Täters, der unermessliche Schuld auf sich geladen hat, und sind von daher aufschlussreiche Zeugnisse für eines der größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte. Will man versuchen, die Motivationen der Täter zu erklären, sind gerade diese Selbstzeugnisse zuverlässige Quellen."

    In seinen einführenden Bemerkungen zu Irmtrud Wojaks Buch würdigt der Historiker Hans Mommsen den Ertrag ihrer Arbeit für die Holocaust-Forschung. Mommsen kündigt sowohl eine Neuinterpretation der Persönlichkeit Eichmanns, als auch einen Beitrag zur Aufklärung der kollektiven Mechanismen an, die den Holocaust mit ermöglicht haben. Diese Ankündigung ist anspruchsvoll, wird aber von der Autorin weitgehend eingelöst. Das gilt für ihre erhellende Darstellung der persönlichen Handlungsmotive Eichmanns und ihrer Bedeutung für die Erforschung nationalsozialistischer Täter insgesamt, bezieht sich aber auch auf die genaue Schilderung der antijüdischen Politik der Nazis und der Rolle, die Eichmann bei ihrer Radikalisierung spätestens seit Kriegsbeginn spielte. Eichmann war an nahezu allen Eskalationsstufen dieser Politik und ihrer logistischen Umsetzung verantwortlich beteiligt, zunächst als Referent für Judenfragen, dann als Auswanderungs- und Umsiedlungsexperte, als Räumungsbeauftragter und schließlich als Fachmann für die Deportation von Millionen Juden in die Konzentrations- und Vernichtungslager. In den Monaten zwischen Herbst 1941 und Frühjahr 1942 enthüllte sich immer offener der von Beginn an in der Politik gegen die Juden und andere, aus Rassenhass verfolgte Bevölkerungsgruppen enthaltene Kern von Vernichtungsbereitschaft. In der Formulierung des einflussreichen Juristen und Ideologen der SS Werner Best - nach dem Krieg Anwalt und Justitiar des Stinnes-Konzerns - bestand die Hauptaufgabe der nationalsozialistischen Politik in der "progressiven Entlastung aller Länder Europas vom Judentum mit dem Ziel der vollständigen Entjudung Europas." Nach dem Auswanderungsverbot für Juden, der offiziellen Zerschlagung von Plänen zu einer sogenannten "territorialen Endlösung der Judenfrage" durch Umsiedlung nach Madagaskar oder in besetzte sowjetische Gebiete, spätestens aber nach den ersten Massenerschießungen durch die "Einsatzgruppen" war auch für Eichmann klar, um was es ging.

    "Eichmann war von Anfang an in das Vernichtungsprogramm einbezogen. Die Stätten der Vernichtung, an die er die Opfer deportierte, waren ihm frühzeitig aus eigener Anschauung bekannt. Gleiches gilt für die Methoden des Massenmordes."

    Eichmann erfüllte seine Aufgaben loyal, in bedingungslosem "Kadavergehorsam" und mit bürokratischer Ordnungsliebe. Aber er operierte nicht nur als Koordinator aufwendiger Fahrpläne und nicht ausschließlich vom Schreibtisch aus. Wenn es der reibungslose Ablauf seiner Tätigkeiten zu erfordern schien, forcierte er selber Massenerschießungen vor Ort, stimmte dem Einsatz "effektiverer" Tötungstechniken, wie der Einführung der neuen Gaswagen zu, oder sorgte für die sofortige Tötung von neu in den Vernichtungslagern angekommenen Juden, um Probleme mit der knappen "Aufnahmekapazität" an den Zielorten seiner Transporte zu beheben. Ein wichtiger Verdienst des Buches von Irmtrud Wojak ist in diesem Zusammenhang die Wiederlegung der gängigen, in der sogenannten "Holocaust-Forschung" sehr verbreiteten These, dass die in Eichmanns Verwaltungshandeln zum Ausdruck kommende "Sachzwanglogik" hauptsächlich oder sogar ausschließlich der Rationalität geregelter bürokratischer Abläufe entsprungen und somit persönlichen und ideologischen Motiven der ausführenden Beamten äußerlich geblieben sei.

    "Die Technokraten und Bürokraten der 'Endlösung’ begannen, die ihrer ideologischen Überzeugung zugrunde liegenden Prämissen mit unfassbarer Brutalität in die Tat umzusetzen. Sie waren von der Notwendigkeit und Richtigkeit ihres Tuns überzeugt und keine bloßen Handlanger. In dem Moment, als ihre Weltanschauung politische Wirklichkeit werden konnte, waren sie zwar wiederholt von der Realität des Machbaren eingeholt worden (...). Die Ideologie diente ihnen bald nur noch als Legitimation angeblich rationalen Handelns. Das war jedoch ihr hauptsächlicher Zweck: Sie diente ihnen dazu, ein beispielloses, jahrelanges Morden zu rechtfertigen."

    Die Entscheidungsabläufe und die praktische Umsetzung des Menschenvernichtungsprogramms lag in den Händen subalterner Bürokraten wie Eichmann. Er gilt als Prototyp des "Schreibtischtäters", der weder offen pathologische oder sadistische Veranlagungen braucht, um seine Tätigkeit auszuüben. Doch wird dabei übersehen, dass die verwaltungsförmige Normalität seines Handelns von einer objektiven Pathologie und Grausamkeit bestimmt ist, die nicht ohne Korrespondenz beim Täter auskommt. Für den Historiker Gustav Seibt darf deshalb auch die scheinbare "Rationalität der Vernichtungsvorgänge, in denen Schreibtischtäter ihre Arbeit verrichten" nicht überschätzt werden. Für ihn sitzt der Schreibtischtäter an einem "Schnittpunkt von Rationalität und Irrsinn". Der in die Normalität der gesellschaftlichen Wirklichkeit im Nationalsozialismus eingelagerte Wahnsinn bezieht sich auf den Antisemitismus und sein inneres Zerstörungspotentials. Das Bild einer von rationalen Sachzwängen bestimmten Logik des Verwaltungsmassenmordes unterschlägt die objektive Kraft dieses antisemitischen Irrsinns und verengt den Blick auf die Täter. –

    "Anhand des Sassen-Interviews lässt sich belegen, dass Eichmanns bedingungsloser Befehlsglaube und sein Funktionsethos ohne persönliche und ideologische Motive nicht denkbar sind. Er hatte die Weltanschauung der Nationalsozialisten, den radikalen Antisemitismus, vollkommen verinnerlicht."

    Eichmann war, wie Wojak dem systematischen Rückgriff auf die Quellen entnehmen konnte, nicht nur ein gehorsamer Verwaltungsfachmann, sondern auch ein "fanatischer Nationalsozialist" und ein "rabiater Antisemit". Er hasste nach eigenem Bekenntnis die Juden, wie alle anderen "Reichsfeinde" auch, die angeblich "dem deutschen Volk an den Kragen" wollten. Für ihn galt die Vernichtung der "jüdischen Rasse" als "Notwehr", denn das "Weltjudentum" habe dem deutschen Reich den Krieg erklärt und müsse deshalb wirklich und umfassend "eliminiert" werden. Eichmann legte es als eigene Schwäche aus, dass es nicht gelungen sei, insgesamt alle 10,3 Millionen europäischen Juden zu vernichten. Und dem holländischen Nazi Sassen gegenüber bekannte er: "Unsere Aufgabe für unser Blut und für unser Volk und für die Freiheit der Völker hätten wir erfüllt, hätten wir den schlauesten Geist der heute lebenden menschlichen Geister vernichtet."

    Natürlich hat Eichmann diese Haltung vor Gericht in Jerusalem zu verstecken und ins Gegenteil zu verkehren versucht. Im Prozess zeigte er sich im Wesentlichen nur als den gewissenhaften, ideologischen Zielen gegenüber scheinbar leidenschaftslosen Bürokraten des Terrors. Auf diesem Hintergrund ist auch das gängige Bild Eichmanns und das berühmte Diktum der Prozessbeobachterin Hannah Arendts von der "Banalität des Bösen" entstanden.

    Für Irmtrud Wojak besteht kein Widerspruch zwischen dem "Überzeugungstäter" und dem bürokratischen "Erfüllungstäter" Eichmann. Ihre systematische Einbeziehung seines fanatischen Antisemitismus als irrationales Handlungsmotiv verändert nicht nur den Blick auf seine Person, sondern auch die Perspektiven der NS-Täterforschung insgesamt. Wojak erkennt hier deutlich die Grenzen einer bloß historischen Analyse und fordert die stärkere Einbindung psychologischer Methoden bei der Untersuchung kollektiver Geschehnisse und der sie prägenden Mechanismen. Ihr Buch lässt sich auch als Plädoyer für eine historische und sozialpsychologische Erforschung des Holocaust verstehen, in der die Verschränkung von objektiven Tatstrukturen und subjektiven Tätermerkmalen im Vordergrund steht.

    Rolf Pohl besprach: "Irmtrud Wojak: Eichmanns Memoiren - Ein kritischer Essay". Erschienen ist das Buch im Campus Verlag, es hat 279 Seiten und kostet EUR. 25,50.