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Ironische Alltagsabsurditäten

Dai Sijie gehört zu den chinesischen Schriftstellern, die in Europa eine zweite Heimat gefunden haben. Gleich mit seinem ersten Roman "Balzac und die kleine chinesische Schneiderin" brachte es Dai Sijie im Jahr 2000 zu Weltruhm. Sein dritter Roman ist nun auf Deutsch erschienen.

Von Christoph Vormweg | 11.05.2010
    "Ich habe noch Lust auf Chinesisch zu schreiben. Aber es ist einfach unmöglich, das, was ich schreibe, in China zu publizieren. Deshalb war ich gezwungen, auf Französisch zu schreiben."

    Dai Sijie ist nicht der erste Schriftsteller, der in Paris seiner Muttersprache erfolgreich abgeschworen hat. Shan Sa, Andreï Makine oder Milan Kundera gehören zu seinen prominenten Vorgängern. 1984, als Dai Sijie im Alter von 30 Jahren nach Frankreich kam, um Filmwissenschaften zu studieren, hatte er bereits einige Novellen geschrieben. Die Umstellung auf das Französische gelang ihm über das regelmäßige Verfassen von Drehbüchern. China blieb jedoch sein großes Thema. So erzählt Dai Sijies Erstling "Balzac und die kleine chinesische Schneiderin" vom Umerziehungsfuror während der Kulturrevolution unter Mao. Sein zweiter Roman "Muo und der Pirol im Käfig" rückt einen Psychoanalytiker in den Mittelpunkt, der nach Jahren im Exil in das moderne China zurückkehrt. Sein dritter Roman "Wie ein Wanderer in einer mondlosen Nacht" taucht jetzt tief hinab in die lange Kulturgeschichte Chinas. Zu Beginn nimmt Dai Sijie aber erst einmal die westliche China-Wahrnehmung aufs Korn. Wir schreiben das Jahr 1979. Die Erzählerin, eine französische Sinologie-Studentin, dolmetscht in Peking bei der Vorstellung des Drehbuchs zum Film "Der letzte Kaiser". Tang Li, ein alter chinesischer Gelehrter, "das lebende Lexikon der Verbotenen Stadt", wie man ihn nennt, bittet Produzent und Regisseur, das Machwerk in der nächsten Mülltonne zu entsorgen. Denn es berücksichtige nicht die Schizophrenie des homosexuellen, impotenten letzten Kaisers, nicht seinen grausamen Sadismus, nicht seine Wahnsinnsdelirien. Der Konferenzleiter wendet sich daraufhin mit den Worten an die Dolmetscherin:

    Sagen Sie dem Herrn, er habe sicher recht. Doch dieser düstere Aspekt [seiner] Persönlichkeit interessiert das westliche Publikum nicht - und schon gar nicht einen weltbekannten Regisseur, dessen Ziel sich in einem einzigen Wort zusammenfassen lässt: Oscar!

    Der Köder ist gelegt. Denn natürlich will die Erzählerin nun die ganze Wahrheit über den letzten chinesischen Kaiser erfahren. Tang Li unterrichtet sie über den aktuellen Wissensstand. Das ganze Interesse der Forschung gilt einer alten Schriftrolle, einem buddhistischen Sutra. Der Kaiser soll es Anfang der 1930er-Jahre in einem Wutanfall zerrissen und die eine Hälfte aus dem Flugzeug geworfen haben. Nur der Satzanfang "Wie ein Wanderer in einer mondlosen Nacht" ist erhalten. Vom Fieber der Suche nach der verschollenen zweiten Hälfte wird auch die Erzählerin gepackt. Zwischen 1978 und 1990 folgen wir ihr auf einer langen imaginären Reise durch die geheimnisvolle Geschichte Chinas. Dafür lernt sie sogar eigens eine Sprache, die niemand mehr spricht. Dai Sijie:

    "Der dritte Roman war für mich komplizierter, ja sogar sehr kompliziert. Denn ich hatte die schlechte Idee, etwas völlig Anderes zu schreiben als zuvor. Meine ersten Bücher waren stark autobiografisch. Dann aber packte mich das Verlangen zu zeigen, dass ich viele Bücher gelesen habe und so gebildet bin wie ein abendländlicher Professor. Diese intellektuelle Koketterie habe ich teuer bezahlt. Denn die Sache entpuppte sich als äußerst verwickelt. Es ging ja um eine tote Sprache - und viele Bücher, von denen im Roman die Rede ist, existieren gar nicht. So sah ich mich - gerade im Hinblick auf den Buddhismus und die heiligen Bücher – immer wieder gezwungen, eine sehr, sehr genaue Romangliederung auf Chinesisch zu schreiben."

    Das breite Lesepublikum hat Dai Sijie, wie er selbst sagt, dieses Mal nicht ansprechen wollen. Denn dafür musste er zu viel sprachwissenschaftliches und kunsthistorisches Fachwissen vermitteln. Dai Sijies Erzählprinzip ist das der Puppe, in der sich immer neue Puppen verbergen. Jede von ihnen entführt uns in ein anderes Kapitel der chinesischen Geschichte: vom Forschungsdrang des entmachteten letzten Kaisers über Maos entmündigende Herrschaft bis hin zur turbokapitalistischen Wende unter seinen kommunistischen Nachfolgern. Zusammengehalten wird der verwinkelte Roman dabei durch die Liebesgeschichte zwischen der französischen Erzählerin und einem jungen chinesischen Gemüsehändler. Beide sind besessen von der Suche nach dem verschollenen Sutra-Stück. Weder eine Abtreibung noch die räumliche Trennung können ihre Liebe ernüchtern. Selbst die Suche der Erzählerin nach neuem Lebenssinn in Afrika scheitert. Denn, so die programmatische Botschaft:

    Man kann mit China nie abschließen, ihm höchstens entfliehen.

    Ist Daji Sijies dritter Roman "Wie ein Wanderer in einer mondlosen Nacht" also nur für Sinologen empfehlenswert? Das wäre übertrieben. Denn aller gelehrten Exkurse zum Trotz lässt Dai Sijie seine aus den beiden ersten Romanen bekannten ironischen, humorvollen Kapazitäten immer wieder aufblitzen: sei es bei der Beschreibung chinesischer oder auch französischer Alltagsabsurditäten. Ob er den höchst verwickelten Stoff dieses Romans selbst verfilmen wird wie zuvor "Balzac und die kleine chinesische Schneiderin", steht aber dahin. Ohnehin ist es nicht der Film, der Dai Sijies Schreiben inspiriert. Im Gegenteil:

    "Das ist vielmehr die Literatur, die mich beim Filmemachen beeinflusst hat. Meine Filme sind eher literarisch. [...] Sie gleichen Romanen oder eher noch Novellen."

    Dai Sijie: "Wie ein Wanderer in einer mondlosen Nacht". Roman. Aus dem Französischen von Giò Waeckerlin-Induni. Piper Verlag, München 2009. 312 Seiten. 19,95 Euro.