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Irrfahrten und Schiffbrüche

Der moderne Reisende hat alles genau geplant: Wann er abfährt, wann er ankommt, wo er unterkommt, was er besichtigen wird. Abweichungen von den Plänen gilt es zu vermeiden, der Umweg wäre das Schreckgespenst. Gerade der Umweg interessierte aber am vergangenen Wochenende Berliner Kulturwissenschaftler. "Umwege - Ästhetik und Poetik exzentrischer Reisen" lautete das Thema eines Workshops an der Akademie der Künste am vergangenen Wochenende in Berlin.

Von Bettina Mittelstraß |
    Gerd Mattenklott: " Ich glaube nicht an diese Königswege zur Wahrheit oder die geraden Wege zu den Zielen. Meist weiß man dann schon allzu genau, wohin man eigentlich will und könnte ebenso gut auch zuhause bleiben. "

    Wer am vergangenen Wochenende nicht zu Hause geblieben ist sondern an der Akademie der Künste in Berlin den verschiedenen Referenten über "Umwege" gelauscht hat, der durfte sich nicht nur an ernsten wissenschaftlichen Beiträgen sondern auch an allerlei Abwegigem erfreuen. Zum Beispiel an der britischen Komikertruppe Monty Python und den abenteuerlichen Verrenkungen der Beine von John Cleese in einem Sketch über "Silly walks".

    "Dumm gelaufen." Krumme Wegen, Holzwege, Irrfahrten und Schiffbrüche - solche Umwege wolle man sich einmal genauer ansehen, so einer der Veranstalter, der Literaturwissenschaftler Dr. Oliver Lubrich

    " Es geht bei dem Symposium besonders um Reisen, bei denen irgendetwas schief geht, bei denen irgend etwas Unvorhergesehenes passiert, das den Reisenden vor eine Herausforderung stellt und zu ungeahnten Ergebnissen führt - künstlerisch, literarisch, politisch, wie auch immer. Das geht von der antiken Irrfahrt des Odysseus bis zu modernen Labyrinthräumen, Dschungeln, Polfahrten durchs Eismeer oder auch Stadträumen in der Moderne, die alle irgendwie als umwegig und unübersichtlich erfahren werden. "

    Mattenklott: " Ich denke, dass diese Entdeckungen, die man exzentrisch macht, die man mit der linken Hand womöglich zuerst anpackt, die man zufällig und überraschend macht, dass die häufig sehr viel produktiver sind und sehr viel eher Unbekanntes erschließen als diese geraden Wege, die vermeintlich zu irgendwelchen Zielen führen. "

    Für Gerd Mattenklott, Professor für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin, steht außer Frage, dass der moderne Tourismus Reisende um die eigentlichen Reiseerfahrungen betrügt. Wer immer schon in einem geschlossenen Rahmen weiß, was er in einer vermeintlichen Fremde sehen und erfahren wird, ist ein Garant für die Wiederholung von stereotypen Vorstellungen aber kein Reisender, der sich offen dem Unbekannten aussetzt und so wertvolle, neue Erfahrungen machen kann. Um- oder Abwege gehören zu Reiseerfahrungen unbedingt dazu.

    " Ich glaube, dass diese Charakterisierung von Reisen, sie seien schief, sie seien missraten, sie seien misslungen im Hinblick doch eher auf diese Vorstellung einer Ökonomie von Aufbruch, Weg und Ziel getroffen werden. Und dass sich doch im Nachhinein für uns, die sich dann uns mit diesen Reisen beschäftigen - auch mit diesen "schief gegangenen" - das Schiefgehen sehr relativiert. "

    Lubrich: " Der Pol als im Grunde weiße Fläche, leerer Raum: ein Ziel, in dem es nicht mal fremde Kulturen zu erfahren gibt! Und das dann noch die Reisenden sozusagen dazu führt, die Übersicht zu verlieren, krank zu werden, zu scheitern im Eis, auf Grund, Eisberge zu laufen, etc. Also das ist geradezu ein Paradefall einer scheiternden Reise, wenn man so will. "

    Trotzdem hat dieses Scheitern im ewigen Eis eine magische Anziehungskraft auf Abenteurer und eine ungeheure Produktionskraft bewiesen, betrachtet man die ungebrochene Erfolgsgeschichte solcher Reisebeschreibungen und Romane. Oliver Lubrich:

    " Wenn Sie nach dem Sinn dieser scheiternden Reisen fragen, so würde ich sagen, ist der in der Regel ein künstlerischer. Das heißt, die Art und Weise, wie die Autoren oder Künstler dieses Scheitern beschreiben, ist dann oft in einer Weise innovativ, dass man fast den Eindruck hat: darum geht es eigentlich. Und nicht um das, was sozusagen realistisch das Ziel der Reise gewesen wäre. "

    Mattenklott: " Man kann sagen, dass das, was wir Reise nennen, sich erst im Nachhinein überhaupt erst konstituiert. Wenn wir drin stecken, dann erfahren wir von Augenblick zu Augenblick und sind viel zu sehr diesen Augenblicken ausgesetzt und ihrer situativen, handlungsmäßigen Bewältigung als dass wir die Sequenz als Reise wahrnehmen können. Die bildet sich erst heraus im Rückblick, indem wir Orte und Zeiten aufeinander beziehen und eine Sprache finden. "

    Die künstlerische Verarbeitung filtert aus Umwegen unersetzlich wertvolle Reiseerfahrungen. Oder anders herum: vermeintlich geradlinige, zielorientierte Reisen werden in der Rückschau als produktiver Umweg identifiziert. Das zeigte der Vortrag von Dr. Viktor Otto, Referent im Bundesministerium des Innern. Er verfolgte den Weg deutscher Schriftsteller in den 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhundert nach Amerika. Vor dem Hintergrund der Naziherrschaft in Deutschland planten sie dort eine vorübergehende Existenz als Farmer. Im Gepäck jede Menge kulturkritische Stereotypen: Vorstellungen über deutsche Bauern, die nichts mehr als ihre Scholle lieben und dagegen die amerikanischen Farmer als geldgierige Unternehmer.

    " Als Umweg würde ich diese Farmerversuche deswegen sehen, weil die Ursprungsintention sicher die war, das kulturkritische Stereotyp in Amerika zu reproduzieren - was halt heißt: zu beweisen, dass der deutsche Bauer etwas anderes ist als der amerikanische Farmer, und im Prinzip dieses deutsche Bauerntum in Amerika zu leben. Das Ergebnis war aber - und da kommen wir zum Umweg - ein komplett anderes. "

    Nicht zuletzt die harten, ungewohnten klimatischen Bedingungen führten dazu, dass deutsche ackerbauende Schriftsteller wie Carl Zuckmayer oder der Reiseschriftsteller Heinrich Hauser auf die Hilfe ihrer amerikanischen Farmer-Nachbarn angewiesen waren. Dieser ungeplante kulturelle Kontakt veränderte die Perspektiven.
    " Und somit wurden diese Farmer, als sie dann nach Europa zurückkamen - beide taten es - wenn man so will zu Predigern eines neuen Amerikabildes, das sich eben bewusst absetzen wollte von dieser alten Entgegensetzung Bauer - Farmer und versuchten das "echte" Amerikanertum, was sie dort eben positiv erfahren hatten, den Deutschen, (also denjenigen, die die amerikanische Besatzungsmacht über sich hatten), nah zu bringen. "

    Neue Einsichten über Land und Leute lassen sich aber auch auf Umwegen über das eigene Land, die eigene Kultur gewinnen, weiß Gerd Mattenklott zu berichten:

    " Ich bin einige Jahre lang- geplant - gereist und zwar lag mir daran zu prüfen, was es eigentlich mit diesem Europa auf sich hat. Ist das eine lediglich literarische Fiktion? Oder ein phantasmagorisches Ding? Oder welchen Realitätsgehalt hat das eigentlich? Und das war ein großer Umweg um dieses Europa herum, buchstäblich um herum, ein Weg drum herum, um zu begreifen, was es denn wohlmöglich im Innersten zusammenhält. Und auf diese Weise ist mir selbst jedenfalls evident geworden, wie wichtig Reisen und Umwege miteinander verbunden sind. "